LÄNDER Europa Alte Recken auf dem Balkan

Alte Recken auf dem Balkan


 

5/ 2010

Blattzeit im Norden des neuen EU-Mitgliedlandes. Eine Erkundungsreise durch mehrere Reviere bei brütender Hitze. Die Böcke waren müde, mein Begleiter nicht – Jagd kennt keine Altersgrenzen.

Von Frank Rakow

 
Was für Panoramen im Revier Russe nahe der Donau! Trotz dieser tiefen Einblicke blieb der Wildanblick spärlich. Foto: F. Rakow
Fast 20 Jahre ist es her, dass ich das letzte Mal in Bulgarien gewesen bin. Damals hatte mich das jagdliche Niveau des Balkanstaates sehr beeindruckt: Wildreiche Reviere, perfekte Organisation, viel jagdliches Knowhow, gute Unterkünfte – kurz, ein Paradies für Jäger.
 
Nur aus der Ferne nahm ich in den Folgejahren wahr, dass der politische Umbruch die stabilen Strukturen auf diesem Sektor erschütterte. Die Posse um den angeblichen Weltrekordhirsch „Burlei“ tat ein Übriges, den guten Ruf des Jagdlandes Bulgarien in Zweifel zu ziehen. War der alte Glanz dahin? Ein Glanz, der wie in Nachbarstaaten aus sozialistischen Zeiten stammte. Jagd lag damals im Interesse der politischen Führer und wurde entsprechend gefördert. Davon profitierten auch (Ausnahme Rumänien) die Gastjäger. Mit der Demokratisierung verschwanden die jagenden Herrscher, die Jagd verlor an Stellenwert und musste sich neu organisieren. Diese Phasen durchlebte auch das heutige EU-Mitglied Bulgarien.
 
„Haben Sie Lust, mit einem alten Jäger zur Bockjagd nach Bulgarien zu fahren? Sie kommen in verschiedene Reviere und können sich selbst ein Bild machen, wie es dort heute aussieht“, fragt mich Hans Biere von S & B Jagdreisen am Telefon. Wir hatten uns in Dortmund über dieses Land intensiv unterhalten. Mit am Tisch saß damals Svetlomir Harisanov, bulgarischer Forstmann und seit fast 20 Jahren Jagdvermittler in dem Balkanstaat. Gemeinsam versuchten sie mich von den Attraktionen und der Qualität ihrer Reviere zu überzeugen. Eigentlich unnötig, denn auf den drei bisherigen Reisen gab es daran nichts auszusetzen. Nur lagen die eben schon lange zurück, und die Nachrichten aus der Zwischenzeit fielen nicht gerade unter die Rubrik „vertrauensbildende Maßnahmen“.
 

 
Den beiden Gesprächspartnern, die auf eine lange vertrauensvolle Zusammenarbeit zurückblicken, hatte meine Skepsis gegenüber „ihrem“ Jagdland offensichtlich keine Ruhe gelassen. Als mich der Anruf von Hans Biere erreicht, ist der Plan bereits minutiös ausgearbeitet: Mit Harisanov, von allen Jägern kurz „Hari“ genannt, sollen vier Reviere mit klangvollem Namen aufgesucht werden: Seslav, Tscherni Lom, Russe und Aprilzi. Mein jagender Reisebegleiter wird ein 89-jähriger Jäger aus Neuss sein. „Der ist noch richtig fit und viel unterwegs“, betont Biere, als er meine Zurückhaltung spürt. Könnte das bei einer solchen Tour nicht zum Klotz am Bein werden? Trotz meiner Zusage bleiben Zweifel.
 
„Diese Augen haben schon viel gesehen“, schießt es mir durch den Kopf, als ich den alten Herren auf den Stufen des VIP-Gebäudes in Sofia begrüße. Kurzes Aufblitzen in den graublauen Augen, ein erstaunlich fester Händedruck, dann drängt Reiseleiter Hari zum Aufbruch. Durch Verspätung und Hängenbleiben meines Koffers in Frankfurt liegen wir fast 2 Stunden über dem Plan. Unser Senior verliert trotz der brütenden Hitze kein Wort über die Unannehmlichkeiten, obwohl er mit einem anderen Flug schon früher eingetroffen ist. Vielleicht liegt das auch an Irena, unserer charmanten Dolmetscherin, die sich seit seinem Eintreffen in der bulgarischen Metropole fürsorglich um Dr. Heinz Grevers gekümmert hat.
 

 
Erste Station: Seslav. Nach 4 Stunden Fahrt erreichen wir das fast 17 000 Hektar große Revier und beziehen die edle Unterkunft „Fasan“. Der Name hat seinen Grund. Am nächsten Tag zeigt uns der Direktor die großzügige Fasanerie, die heute nur noch extensiv betrieben wird. Vorteilhaft für die Jagd mit Flinte und Büchse sind die breit angelegten Schneisen bzw. Äsungsstreifen, da ansonsten in den dichten Laubwäldern wenig zu sehen ist. Hier wie in anderen Revieren des Nordens bewundern wir den hohen Anteil von Linden (bis zu einem Drittel). Nebenbei erfahre ich, dass Bulgarien einer der größten Exporteure von Lindenblättern und -blüten ist.
 
Die Augusthitze bis 40 Grad bringt das Wild verständlicherweise wenig auf die Läufe. Wir sehen hier und da jüngere Böcke, haben aber den Eindruck, dass die Brunft schon vorbei ist. Der reichliche Anblick von Turteltaube, Pirol, Bienenfresser und Wiedehopf entschädigen ein wenig.
 
Beeindruckend auch die vielen Wildkatzen mit enormen Ausmaßen. Am hellichten Tage mausen sie auf offenen Flächen. Das können sie jetzt beruhigt, denn nach Bulgariens Beitritt zur EU haben sie keine Jagdzeit mehr. Insgesamt 11 kleine Tiger sollte ich in den Revieren des Nordens zu Gesicht bekommen.
Die Geschichte des stellvertretenden Jagddirektors von Seslav ist symptomatisch für die Entwicklung im (politischen) Jagdwesen: Sechsmal ist der 60-Jährige während seiner Karriere in der Führungsspitze dieses Revieres „umgesetzt“ worden. Seinem Frohsinn scheint das keinen Abbruch getan zu haben.
 

 
Ein kurzer Abstecher in das Revier Russe an der Donau steht unter besonderem Vorzeichen. „Dort habe ich den stärksten Bock meines Lebens geschossen“, gab mir unser Redaktionsleiter mit auf den Weg. Na denn! Aber Duplizität der Ereignisse – das kommt selten vor. Dafür begeistert mich das fantastische Panorama eines Canyons, in den mich die Revierverantwortlichen im Morgennebel führen. Wir sehen Rotwild und weibliches Rehwild, aber weit und breit (und das ist aus unserer Felskopf-Position wörtlich zu nehmen) kein einziges Rehpärchen.
 
Dafür wird zum starken Espresso eine Hirschtrophäe präsentiert, die jeden Kenner mit der Zunge schnalzen lässt: 14,3 kg! Aber warum ist der Hirsch noch da? Erlegt hat ihn ein Rumäne in der Brunft 2009. Er war sich aber wohl nicht klar, worauf er sich eingelassen hat, berichtet man mir. Jedenfalls konnte er nur gut die Hälfte des Betrages vor Ort hinlegen. Den Rest stottert er nun ab. Bis dahin bleibt das schwergewichtige Pfand in Russe.
 
Weiter geht unsere Rundtour in das berühmte Tscherni Lom: Rotwildrevier par excellence. Mit rund 25 000 Hektar Wald und nochmal 100 000 Hektar Feld aber auch für Bockjagdzwecke bestens geeignet. Doch der Sommer im Balkanstaat meint es zu gut. Die Temperaturen bleiben oberhalb des Wohlfühlbereichs, der sich lediglich bei Benutzung des Swimmingpools einstellt.
 

 
Aber nach Sonnenunter- und vor Sonnenaufgang haben wir auf den abgeernteten Feldern durchaus attraktiven Anblick. Und nicht nur das: Mit zwei blitzsauberen Schüssen erlegt unser Senior zwei Böcke. Einen edel geformten Sechser mit fast 400 Gramm und einen Tag später einen, der sicher noch mehr auf die Waage gebracht hätte, wäre nicht die eine Stange abgebrochen. Von dem zweiten Bock war der Jagdführer gar nicht so begeistert, weil er im nächsten Jahr vielleicht mehr gezeigt hätte. Aber wie so viele Jäger hat Heinz Grevers eine Leidenschaft für abnorme Böcke, „und deshalb wollte ich ihn gern mitnehmen“, zwinkert er mir zu. Eine halbe Stunde lag er im Anschlag, behielt Geduld und Nerven, bis das Objekt seiner Begierde im hohen Kraut ein wenig Decke zeigte.
 
Am Abend ziehen wir gemeinsam los, der alte Herr quasi als Glücksbringer für guten Anblick und Erfolg. Da das nicht wie erwartet funktioniert, haben wir genügend Zeit, uns ein wenig auszutauschen. Ich erfahre, dass er aus einer jagenden „HNO-Dynastie“ stammt.
 

 
Zwei alte Recken: Dr. Heinz Grevers mit seinem ersten Bock von 388 Gramm: herrliche Rosen, gute Auslage und hohes Alter. Foto: F. Rakow
Schon sein Vater übte den Beruf eines Hals-, Nasen-, Ohrenarztes aus. Seine Frau war auch seine Partnerin in der Praxis, und seine Tochter setzt zusammen mit ihrem Mann diese Tradition fort „und ist noch passionierter als ich“, betont der stolze Vater. Zusammen haben sie auch viel im Ausland gejagt. Ein Höhepunkt war die gemeinsame Extremtour auf Blauschaf in Nepal. Die Szene von Vater und Tochter mit erlegtem Schaf im Himalaya darf ich als Gravur auf der Unterseite seiner feinen Kipplaufbüchse bewundern.
 
„Ein eigenes Revier hätte sich bei meinem Beruf nicht gelohnt“, erklärt mir der schlanke Doktore. „Einfacher ist für mich, eine kurze Zeit ganz weg zu sein, das kann ich besser organisieren.“ Offensichtlich liegt ihm nicht nur das Jagen, sondern auch das Organisieren, denn es gibt kaum einen Ort, kaum eine Wildart auf der Erde, die er nicht jagdlich erobert hat. Allein drei Mal weilte er in Neuseeland. „Nur Afrika hat mich nicht so gereizt“, fasst er zusammen. Dort gewesen ist er natürlich trotzdem einige Male.
 

 
Reiseleiter Harisanov und Dolmetscherin Irena mit der gesamten Bockausbeute der Reise. Foto: F. Rakow
Heinz Grevers mit seinen fast 90 Jahren ist lebender Beweis dafür, dass aktives Jagen im hohen Alter noch möglich sein kann. Der Zielstock wird gleichzeitig als Stütze in schwierigem Gelände eingesetzt. Und beim Pirschen bremst er den Jagdführer aus, die auch hier meistens eine viel zu schnelle Gangart an den Tag legen. Nun kann ich endlich die Frage loswerden, was die roten Schleifchen an seinem Fernglas und anderen Utensilien bedeuten. „Im Dunkeln kann ich unterdessen sehr schlecht sehen“, erklärt er mir den Sinn. „Mit dem Bändchen finde ich die Sachen besser wieder.“ Als Heinz am Abend erfährt, dass eine Drückjagdgruppe storniert hat, ist er sofort interessiert. „Das Dumme ist nur, dass von meiner alten Mannschaft fast keiner mehr lebt.“ Aber er will sich trotzdem umhören.
 
Wir erreichen die letzte Station: Apriltzi. 14 000 Hektar im Balkan. Unterkunft ebenfalls erste Sahne. Viel Wald auf den Kuppen, herrliche Bergwiesen mit komfortablen Hochsitzen. Die Wege dorthin jedoch fast halsbrecherisch. Das größte Stück davon schafft der Lada in fast unglaublicher Weise.
 
An Böcken sehen wir, wenn überhaupt, eher Durchschnittliches. Jedenfalls nichts, was die lange Reise gerechtfertigt hätte. Entschädigt werden wir von atemberaubenden Einblicken in die Schluchten des Balkans.
 
 

 
 

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