LÄNDER Europa Der „Bergziege“ hinterher

Der „Bergziege“ hinterher


Bergziege
 

3/2012

Die drei wichtigsten Zutaten für eine herrliche Bergjagd sind Anstrengung, Ausblick und Erfolg. Wenn alles zusammenpasst, bleiben unvergessliche Erlebnisse. Bei mir passte es bei herrlichem Wetter mit Blick auf Mont Blanc, Gams und Muffel.

Von Armin Liese

 
Eine große Schar Gamswild zieht den Hang hinauf. Oben im Felsen fühlen sie sich sicher. Foto: A. Liese
Die Sonne wärmt noch, obwohl es bereits November ist. Ich sitze auf der Terrasse einer kleinen Pension in Jarsy, einem Bergdorf am westlichen Rand der französischen Alpen in der Region „Haut Savoie“. So verausgabt war ich vorher erst einmal in meinem Leben: Damals bin ich ohne Vorbereitung im jugendlichen Leichtsinn einen Halbmarathon gelaufen. Jetzt war es Bergjagd mit Thierry alias „die Bergziege“, dem geländegängigsten Führer aus der französischen Försterriege.
 
Langsam trudeln die anderen Zweier-Trupps ein. Alle Deutschen sind fertig. Nur der Kollege aus der Schweiz macht eine ähnlich gute Figur wie mein athletischer Förster. Sie waren unsere Jagdführer im Wildforschungs- und Jagdschutzgebiet Les Bauges. Die Truppe kennt sich perfekt aus, zumal die Forstwirtschaft eine untergeordnete Rolle spielt. Sie sind Jäger.
 
Schon an der Kleidung, in Frankreich ist Tarnmuster offensichtlich gesellschaftsfähig, erkenne ich die Verbundenheit der Förster mit der Jagd. Lodengrüne Uniformen trägt keiner der kernigen Kerle. Genauso wenig wie überflüssige Pfunde.
 
 

Jenseits der Wege

 
Bergung aus der Steilwand: Die Gams ist nach dem Kammertreffer abestürzt. Zum Glück hat sie sich mit den Krucken im Fels verhakt, sonst wäre sie weit abwärts gerutscht. Foto: A. Liese
Dass ich mich so verausgabt habe, hat 2 Gründe: einen halben Jagdtag mit 1.200 Höhenmetern Ab- und Aufstieg und einen zweiten halben Jagdtag mit 1.800 Metern Höhenunterschied. Zufriedenheit und Erfolg überdecken aber Schmerzen und Strapazen. Mein lang gehegter Wunsch nach anstrengender Bergjagd ist jetzt umgesetzt. Aber jetzt der Reihe nach…
 
Nach dem obligatorischen Kontrollschießen der Waffen sind wir startklar. Eine kleine K3-Kipplaufbüchse im Kaliber .270 Winchester mit 42er-Magnus-Zielfernrohr und Geovid-Fernglas mit integriertem Entfernungsmesser sind meine Ausrüstung. Die Waffe ist führig und leicht wie ein Spielzeuggewehr, trotzdem aber sehr präzise. Bevor wir losfahren, steht noch Mittag essen auf dem Programm. Viel Hunger habe ich nicht, denn ich höre den Berg rufen. Am liebsten würde ich direkt aufbrechen, aber das geht in Frankreich nicht. 3 Gänge, danach Käse und dann noch Kaffee. Alles mit vielen Unterhaltungen und in aller Ruhe. So viel Zeit muss sein.
 
Nachdem wir etwas Trinkwasser, Wechselklamotten und Regenzeug verstaut haben, starten wir endlich. Nicht mit einem stabilen Geländewagen, ein französischer Kastenwagen ist die „Dienstkutsche“ des Försters. Über Schotter-Serpentinen geht es steil bergauf. Erstaunlich gut schlägt sich dabei das Straßenauto. Am „Parkplatz“ angekommen, geht es zu Fuß bergab durch Buchenwald. Das trockene Laub raschelt höllisch laut. Dass wir so Wild in Anblick bekommen, kann ich mir nicht vorstellen. Mit meinen Französischkenntnissen aus längst vergangenen Schultagen frage ich bei Thierry nach. „Ganz oben wird es erst richtig interessant“, erklärt er mir.
 
Durch die dicke Laubschicht ist der Wanderweg bei jedem Schritt Blätter auf die Seite schiebt, tue ich dies auch. Das ist gar nicht so dumm, denn der lehmige Untergrund ohne Bewuchs ist schmierig und verlangt volle Konzentration. Nach über einer Stunde Aufstieg im Wald kommen wir in die Krüppelholzzone.
 
Hier oben gibt es keine Wege mehr. „Wanderer steigen nicht so hoch“, erklärt mir Thierry. Die letzte Baumregion ist schnell überwunden, und wir queren ein Geröllfeld. Dass es hier so langsam schwierig wird, wird mir erst auf dem Rückweg klar. Momentan treibt mich die Vorfreude und Passion den Berg hinauf, als wäre es eine Wandertour im Flachland.
 
Thierry wird nach dem Hochklettern des Felsens vorsichtiger. Immer wieder stoppt er und glast mit seiner Optik die Hänge im Kar kaum zu erkennen. Da mein Führer ab. Oben sind Felsen, unten alpine Rasen. Wir pirschen in den Talkessel, der bis auf ein Bächlein keinen Ausgang besitzt. Schon bald entdecken wir die ersten Gemsen. Gebückt schleichen wir hinter einen Felsen. Wir legen unsere Ausrüstung ab, richten ein Lager ein und schieben das überflüssige Gepäck unter den Felsen. Keine 200 Meter trennen uns noch von dem Scharwild im Hang.
 
 

Sturz in die Tiefe

 
Die untergehende Abendsonne scheint noch auf die Hänge, während mein Jagdführer Thierry den 6-jährigen Gamsbock aufbricht. Foto: A. Liese
Thierry flüstert mir zu, dass ich mich fertig machen soll. In aller Ruhe lade ich die Kipplaufbüchse und postiere meinen kleinen Rucksack als Auflage. Zuerst muss ich meinen Puls herunterfahren, was in der dünnen Luft gar nicht so einfach ist. Ein einzelner Gamsbock zieht auf 100 Meter rechts an uns vorbei. Mein Förster gibt ihn mir frei: Sofort bette ich mich um. Die Gams zieht dabei, immer wieder zu uns sichernd, im Talkessel stetig weiter weg. Auf 168 Meter verhofft das Stück. Da ich mittlerweile ruhig bin, lasse ich fliegen. Der Bock zeichnet und ist im nächsten Augenblick verschwunden.
 
Erleichtert klopft mir Thierry auf die Schulter. Nachdem ich kräftig durchgeatmet und den Moment etwas genossen habe, zeigt er in die entgegengesetzte Richtung: Mindestens 40 Stücke Gamswild stehen hinter uns im Hang – welch ein Anblick! Der verschwundene Bock beschäftigt mich aber so sehr, dass ich nicht lange liegenbleibe. Wir packen unsere sieben Sachen und gehen zum Anschuss. Schweiß auf dem Felsen verrät einen Treffer. Fakt ist aber: Der Bock ist weg! An der Abbruchkante entdeckt Thierry das Stück: Mit den Krucken hat es sich in einer Felsritze beim Absturz verhakt. Unser Glück, denn es geht fast senkrecht nach unten.
 
Thierry zaubert ein Bergsteigerseil aus seinem riesigen Rucksack. Ich halte es oben fest, während der Hühne mit bestimmt 110 Kilogramm Lebendgewicht hinabklettert. Nach 10 Metern ist er am Stück angekommen und knotet das Seil um die Krucken. Er ruft mir zu, dass ich nach oben ziehen soll, während er von unten schiebt. Ruckzuck haben wir meinen Bock auf dem Felsplateau.
 

 
Nach dem Aufbrechen verstauen wir die Gams im Rucksack von Thierry. Mühelos passt sie hinein. Mühevoll ist hingegen, das Stück auf dem Rücken zu tragen, denn ich bestehe darauf, meine erste Gams selbst zu Tal zu bringen. Wir marschieren zu dem Fels, von wo aus ich geschossen hatte.
 
Ein leichtes Grinsen macht sich auf Thierrys Gesicht breit. Nicht weil ich mich mit der Last sehr mühe, sondern er hat einen Plan: In meinen kleinen Flachlandtiroler-Rucksack würde noch ein Kitz passen. Da ich von seiner Idee begeistert bin, pirschen wir das große Schar an. Wir legen uns flach auf den Boden und beobachten die Gemsen. Auf 250 Meter steht ein Kitz, dass er ausgeguckt hat. Da ich aber näher ran will, robben wir noch etwas vorwärts.
 
Je dichter wir herankommen, desto unruhiger werden die Geißen. Auf einmal setzt sich die Korona in Bewegung und zieht nach links den Berg hinauf. Ganz am Ende folgt ein Kitz. Auf 203 Meter lasse ich fliegen. Das Stück liegt im Knall. Welch ein perfekter Pirschgang! Die untergehende Abendsonne scheint auf die gegenüberliegenden Bergwipfel, während ich das Kitz aufbreche. Kaum zu glauben, aber die Nachwuchsgams passt in meinen Rucksack.
 
Mit dem Kitz auf dem Rücken, das höchstens die Hälfte des Bockes wiegt, und der gesamten Ausrüstung bin ich vollkommen ausgelastet. Ich muss nicht mehr den 6-jährigen Gamsbock selber tragen, zumal das Licht schwindet und der Abstieg noch weit ist. Der Rückweg gestaltet sich noch schwieriger als der Aufstieg: Nicht nur der rutschige Untergrund, auch das fehlende Licht und der gefüllte Rucksack erschweren sichere Tritte. 3 Mal rutsche ich aus, lande aber weich im Laub des Bergwaldes.
 
Nach 45-minütiger Fahrt mit der „französischen Bergkutsche“ sind wir kräftig durchgerüttelt. Erst im Dunkeln erreichen wir die Pension, wo alle anderen schon beim Bier oder Wein sitzen. Stolz präsentiere ich meine 2 Gemsen, die aber nicht die einzigen sind: Insgesamt kamen 6 zur Strecke – gute Gründe für einen sehr fröhlichen Abend.
 
 

Treffen sich zwei Jäger

 
Ein Gamsbock schaut als Zaungast vorbei, während wir uns dem beschossenen Muffelwidder nähern. Auf wenige Schritte Entfernung beginnt er zu schlegeln und rutscht ab. Foto: A. Liese
Nach einer kurzen Nacht ist schon um 5.30 Uhr das Frühstück gerichtet. Bei Dunkelheit wollen wir aufbrechen, um den gesamten Vormittag zu nutzen. Heute soll ich auf Muffelwild jagen. Im Gegensatz zu den hohen Beständen des Gamswildes sieht es bei den Muffeln anders aus. Deutlich weniger und außerdem scheuer und vorsichtiger sind die Wildschafe im Reservat. Sie leben an der Waldgrenze und darüber. Problem: Im Wald liegt das laute Laub, im offenen Gelände äugen die Wildtiere extrem gut und warnen sich gegenseitig. Die Erfolgsaussichten sind somit deutlich geringer, und die Jagd sehr anspruchsvoll. Aber mit den 2 Stücken Gamswild bin ich glücklich und entspannt. Es ist ein Tag zum Genießen – alles kann, nichts muss.
 
In der Morgendämmerung sind wir am selben Ausgangspunkt für unseren Pirschgang wie gestern. Heute geht es allerdings lange durch den Wald. Das Laub macht einen Höllenlärm. Wie sollen wir so Muffelwild anpirschen, das im November durch die Brunft in großen Rudeln auftritt? Nach ungefähr einer Stunde wird Thierry langsamer. Anscheinend kommen wir in interessante Regionen, in denen mein Förster mit Wildschafen rechnet. Aber was soll das? Thierry schickt mich voraus. Er will mir unauffällig folgen. Herrlich, ich kann mir nichts Schöneres vorstellen! Langsam schaffen wir uns durch das Laub, immer wieder von Abschnitten mit Nadelwald unterbrochen, wo wir fast lautlos pirschen.
 
Auf einmal höre ich ein Rascheln. Sofort verharre ich und signalisiere Thierry, sich hinter mir zu verstecken. Langsam bewegen wir uns vom Weg herunter hinter eine alte Buche. Das Rascheln wird immer lauter. Ich stelle mir vor, wie das große Rudel langsam den Weg auf uns zuzieht. Plötzlich kommen sie um die Biegung: keine Muffel, es sind 2 Jäger. Sie haben uns noch nicht entdeckt, denn wir hatten den entscheidenden Vorteil, sie zuerst gehört zu haben. Mit freudigem Winken begrüße ich unser Nachbargespann, das ebenfalls im halben Hang von der anderen Bergseite auf uns zugepirscht ist. Das Austauschen von Erlebnissen ist schnell beendet: kein Anblick. Nachdem sich die 2 Förster über die weiteren Wege einig sind, drehen wir senkrecht nach oben ab. Dort reicht der Wald bis an die Felswand.
 

Ankunft am Grat

 
Für wissenschaftliche Auswertungen werden die Gemsen und Muffel vermessen, gewogen und dokumentiert. Foto: A. Liese
Thierry ist etliche Meter vor mir oben angekommen. Vorsichtig glast er den Talkessel ab, in dem wir gestern die Gemsen bejagt haben. Er duckt sich plötzlich. Unmissverständlich macht er eine Halbkreis-Bewegung neben seinem Kopf. Ich kann es kaum fassen. Sollte sich der Traum wirklich noch erfüllen? Als ich etwas nach vorne robbe, sehe ich den Widder weit unter uns. Er hat sich niedergetan. Wahrscheinlich war für ihn der Aufstieg ähnlich anstrengend wie für mich. Ich postieremeinen kleinen Rucksack und lade das Gewehr. Der Entfernungsmesser zeigt 189 Meter. Wie gestern muss ich mich erst einmal beruhigen, der Puls muss runter. „Warte bis er hoch wird, dann kannst du schießen“, sagt Thierry zu mir.
 
Die 2 Minuten zum Verschnaufen erscheinen mir wie eine Ewigkeit. Ich erkläre meinem Jagdführer, dass ich mir den Schuss auf den spitz von uns weg liegenden Widder zutraue. Hinter dem Trägeransatz halte ich an und lass fliegen. Im Knall sackt das Haupt. Lobende Schläge auf meine Schulter folgen.
 
Thierry eilt schon los. So schnell, dass ich nicht folgen kann. Als er auf 30 Schritt am Widder heran ist, schlegelt dieser und rutscht den Berg hinab. Auch ein zweiter Annäherungsversuch scheitert. Thierry wartet auf mich, und wir machen einen Plan: Er bekommt die gesamte Ausrüstung, ich gehe den Widder mit meinem Messer von unten an.
 
Wenige Meter entfernt beginnt er wieder zu schlegeln und kugelt mir entgegen. Beherzt greife ich an die Schnecken – jetzt nur noch festhalten! Zusammen überschlagen wir uns mehrmals, bis ich wieder Halt finde. Trotz des Treffers direkt neben der Wirbelsäule und einem Durchschuss der Kammer ist der Bursche verdammt agil, bis ich ihn abfange. Alle Anspannung fällt von mir ab, und ich bin zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich einer der glücklichsten Menschen auf dieser Welt. Nach dem Aufbrechen verpacken wir den Widder im großen Rucksack von Thierry. 45 Kilogramm könnte ich in meinem Zustand auch nicht mehr tragen. Gegen Nachmittag kommen wir nach insgesamt 3.000 Höhenmetern an der Pension an. Ich setze mich auf die Terasse. Hunger habe ich keinen, Durst nur wenig, Glücksgefühle dafür um so mehr.
 

 
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