LÄNDER Amerika In der Höhle des Wolfs

In der Höhle des Wolfs

 

1/2013

Das Ziel war ein Barren Ground-Karibu. Gejagt wurde auf den vielen Inseln des riesigen Nueltin Lake im kanadischen Manitoba. Als „Prämie“ winkte die Chance, einen Timberwolf zu erlegen.

Von Joachim Eilts

 
Ungeniert ud ohne Hast rinnen 2 junge Karibus von einer kleinen Isel aufs Festland. Foto: J. Eilts
Orkanartige Böen pfeifen um meine Hütte. Draußen ist es eisigkalt, haselnussgroße Hagelkörner knallen gegen die Fensterscheiben. Meinetwegen. Kratzt mich nicht. Es ist die letzte Nacht in Manitoba. Morgen früh geht es zurück nach Hause. Im Gepäck: wunderbare, spannende Jagderlebnisse. Ich erzähl sie mal.
Samstag, 15. September. Nicht mehr lange, und wir, 10 Jäger sowie 6 Angler aus Nordamerika und Europa, werden auf der großen, trockenen Sandpiste in unmittelbarer Nähe des 190 Kilometer langen Nueltin Lake in Manitoba aufsetzen. Allen ist die Vorfreude auf die folgenden Tage anzusehen.
Wir sind der Barren Ground-Karibus und Elche wegen im Land der 100.000 Seen. Hierher führt keine Straße, die nächste Siedlung ist 200 Kilometer entfernt, das Handy hat keinen Empfang, nachts heulen die Wölfe… Genau nach meinem Geschmack.
Etwa 20 Minuten später, wir sitzen bereits in den Booten, die uns zur 3 Kilometer entfernten Treeline Lodge bringen, ist der Flieger schon wieder in der Luft.
 

Reif für die Insel

 
Die Treeline Lodge aus der Vogelperspekive. Es kommt durchaus vor, dass sich die Karibus exakt hier sehen lassen. Foto: J. Eilts
Gleich nach Mittagessen und Einschießen der Waffen beginnen wir mit der Jagd. Ab in die Boote, rauf auf die Inseln. Über schwammiges Moos und morastigen Boden pirschend, erreichen mein indianischer Guide Albert und ich gut 1 Stunde später auf dem angesteuerten zirka 80 Hektar großen Eiland mehrere halbhohe Weidengebüsche. Wir sind froh, die sumpfige Freifläche hinter uns zu haben.
Vor uns befinden sich gewaltige, mit Moos bewachsene Felsen, zwischen denen verkrüppelte Bäume ihr Dasein fristen. Der steinige Boden ist glitschig. Wir müssen aufpassen, nicht auszurutschen. Schwärme von Mücken machen uns zu schaffen, kriechen in Ärmel und Hosenbeine.
Albert ist die Ruhe selbst. Von Zeit zu Zeit schnellt er, einem Flitzebogen gleich, in die Senkrechte, um die Gegend abzuleuchten. Im Unterschied zu mir braucht „Adlerauge“ kein Fernglas. „Diese Insel hier“, flüstert er, „ist ein Geheimtipp. Every year lots of Caribous!“
Ein Indianer, der Albert heißt? Ich muss mich daran gewöhnen. Auch die anderen indianischen Helfer haben Namen, die mich irritieren: Ralph, Norman und Raimond. Ich dachte immer, Indianer heißen Adahy (der in den Wäldern lebt), Akecheta (der Krieger) oder Bodaway (der Feuermacher) etc. Ich komme vom Thema ab.
Hügel, Tal, Hügel, Tal. Hoch und runter geht es. Vorbei an einem kleinen See inmitten der Insel. Schließlich erreichen wir ein 3 Fußballfelder großes grasbewachsenes Plateau. Nichts. Nicht ein Haar ist zu sehen. Fast eine halbe Stunde lang glasen wir jeden Busch, jeden Felsen ab. Das Ergebnis bleibt gleich.
Weiter geht’s. Beim Durchqueren der nächsten Dickung bleibe ich etwas zurück. Das fast undurchdringlich dichte Gestrüpp aus Zwergbirken, Weiden, Erlen und kniehohen Schachtelhalmgewächsen erschwert das Vorwärtskommen. Ständig versacke ich im Morast. Es scheint, als wolle mich die Wildnis daran hindern, ein Karibu zu erlegen. Die Lungen pumpen, der Körper dampft. Albert ist das gewohnt. Ihm macht der Gewaltmarsch nichts aus.
 

 
Als einzige Hirschart tragen beim Karibu nicht nur männliche Stücke ein Geweih. Das erschwert das Ansprechen. Foto: H. Schulz
Als wir, aus einer Senke kommend, den offenen Bereich linker Hand abglasen, glauben wir, nicht recht zu sehen. Gut 300 Meter entfernt haben sich mehrere Karibus niedergetan und wackeln, wohl der kleinen Plagegeister wegen, ständig mit dem Haupt hin und her. Geweihspitzen ohne Ende. Wie viele? Zählen kann ich sie nicht. Es dürfte sich um ein Rudel von etwa 15 Stück handeln. Ein genaues Ansprechen ist unmöglich. Sicher sind gute Hirsche dabei, aber in der Mehrzahl scheinen es Alttiere und Kälber zu sein.
Der Wind passt. So beeilen wir uns, tief gebückt und robbend, näher heranzukommen. Dabei verhakt sich mein linker Fuß unter einer Baumwurzel. Während ich stürze, schlägt mir ein Ast ins Gesicht. Verdammt! Die blutende Schramme auf der Wange ignoriere ich. Haben uns die Karibus mitbekommen? Nein!
Der Plan scheint aufzugehen. Alle 10 Meter heben wir langsam und vorsichtig die Köpfe, werden immer optimistischer. Schließlich sind wir nur noch 250 Meter vom Rudel entfernt. Erst jetzt merke ich, dass ich durch frische Karibulosung gekrochen bin. „Bringt Glück“, flüstert Albert und grinst.
Na bitte: Ich mache ein männliches Prachtexemplar aus. Hohe Stangen. Geringe Vereckung. Augenscheinlich alt. Entfernung: etwa 230 Meter. Wie bestellt erhebt sich der Hirsch aus seinem Bett und schüttelt sich. Perfekt getarnt durch die Farben seiner Decke hebt er sich kaum von der Landschaft ab. Tief hängende Regenwolken und aufsteigende Nebelschwaden hüllen das Ganze in ein gespenstisches Licht. Wunderschön.
Jetzt kommt das ganze Rudel hoch und beginnt zu äsen. Woher kommt der Wind? Direkt von vorn. Alles okay.
„Willst du es versuchen?“, fragt Albert. „Noch nicht“, antworte ich. „Vielleicht kommen wir ja noch näher heran“. Und schon kriechen wir, jede Deckung nutzend, weiter durchs hohe Gras. Albert wie ein Indianer, ich wie ein altersschwacher Leguan.
Wo sind die Karibus? Sie tun uns den Gefallen und bleiben, wo sie sind. Was macht der Hirsch? Ich bekomme ihn nicht ins Glas.
 

Jagdfieber

 
Pieksauber verfegt, Der Autor präsentiert stolz seinen alten Karibu in der Farbenpracht Manitobas. Foto: J. Eilts
Nur noch 200 Meter. Jetzt heißt es warten. Warten? Leicht gesagt. Sofort haben wir dieselben Probleme wie die Karibus, dürfen uns im Gegensatz zu ihnen allerdings nicht bewegen. Wer nur hat die frechen, blutsaugenden Insekten erschaffen?
Dann jedoch scheint Diana ein Einsehen zu haben: Urplötzlich steht der Galan 10 Meter links von seinem Harem neben einer Kiefer und äugt nahezu breitstehend in unsere Richtung. Hat er uns mitbekommen? Wohl nicht.
Und da ist es wieder, das Jagdfieber. Der Wind rauscht, mein Blut wallt, die Schilfhalme peitschen… Irgendein kluger Mensch hat einmal gesagt: „Der beste Weg, Träume Wirklichkeit werden zu lassen, ist aufzuwachen.“ Ich reiße mich zusammen und bin plötzlich wach, wacher geht nicht. Die Waffe auf einem Baumstumpf im Anschlag, erfasse ich mit dem Zielstachel das Blatt des Hirsches. Schon rollt das Echo des Schusses durch die Stille.
Sofort repetiere ich, aber das hätte ich mir sparen können. Die .30-06 hat ganze Arbeit geleistet. Bereits nach 5-6 Gängen bricht das Karibu zusammen, kippt zur Seite, schlegelt ein paar Mal mit den Läufen und rührt sich nicht mehr.
Seit Tagen schon habe ich es im Kreuz. Ab sofort noch mehr, denn Albert schlägt mir mit unbändiger Kraft derart heftig auf die Schulter, dass ich platt auf dem Waldboden lande. „You hit him, you hit him!“, nuschelt er. Oder sagte er „you miss him“? Es hätte auch „du Misthund“ heißen können, aber da er kein Deutsch spricht, schließe ich das aus.
Endlich die Erlösung: Klar und deutlich wiederholt er: „You hit him!“ Meine Freude ist unbeschreiblich. Dennoch warten wir ein paar Minuten, ehe wir uns auf den Weg zur Beute machen.
 

 
Innerhalb von 6 Tagen finden der indianische Guide Albert und Jagdgast Akki über 60 Abwurfstangen. Foto: J. Eilts
Noch heute sehe ich die langen, bereits verfegten Geweihspitzen aus dem Buschwerk ragen und spüre die knisternde Spannung in meinem Körper. Mein erstes Barren Ground-Karibu. Alt ist es, mindestens 10 Jahre, eher 12, wie die abgeschliffenen Zähne und das zurückgesetzte Geweih belegen.
Auweia! Urplötzlich beginnt es fürchterlich zu regnen. Ohne dass wir es bemerkt haben, stehen tiefschwarze Wolken über uns; ein Wolkenbruch folgt dem anderen. Es schüttet wie aus Kübeln. Der Blick zum Himmel macht deutlich: keine Chance für die obligatorischen Fotos. Das wird nichts mehr heute. Kein Problem. Morgen ist auch noch ein Tag.
In Windeseile ziehen wir das Regenzeug über und machen uns trotz des Sauwetters sofort an die Rote Arbeit. Sie dauert lediglich eine halbe Stunde. Gleich danach tragen wir Haupt, Keulen, Rücken und Blätter ins Boot und tuckern bei zunehmendem Wind und nicht enden wollendem Platzregen über den kabbeligen Nueltin Lake zurück zur Lodge.
 

Timberwolf

 
Timberwolf am Riss. Ein einmaliger Anblick und ein seltenes Erlebnis. Foto: H. Jegen
Weil jeder Gast, der eine Jagd auf Großwild (Karibu, Elch oder Schwarzbär) gebucht hat, zusätzlich einen Timberwolf erlegen darf, versuche ich in den nächsten Tagen zusammen mit Albert von der Lodge aus auf dem Festland mein Glück auf diese Spezies.
Fantastisch, die Farbenpracht der Tundra. Die Natur zeigt sich in ihrer ganzen Schönheit – wie ein aufgeschlagenes Bilderbuch. Rot, braun und gelb leuchten die Blätter der Laubbäume. Zusammen mit den rostbraunen Nadeln einiger Lärchen bilden sie im gleißenden Sonnenlicht eine großartige Komposition.
Vom nicht weit entfernten Nueltin Lake klingen die wehmütigen Rufe zweier Loons (Seetaucher) zu uns herüber. Ein Raufußhuhn, ein Spruce Grouse, ist derart vertrauensselig, dass es sich aus einer Entfernung von lediglich 3 Metern ablichten lässt. Unverschämt: 2 Kolkraben machen einen Krach, als würde eine Horde betrunkener Cowboys eine Kneipe auseinandernehmen.
Was ist das? Nur ganz leise, weil weit entfernt, hören wir nasale Laute, froschartiges Grunzen. Ich kann mir so recht keinen Reim daraus machen, aber Albert klärt mich auf: „Das ist der Brunftruf eines Elchschauflers!“ „Aha.“
Oh mein Gott: Gerade als wir uns anschicken, die Pirsch auf dem vor uns liegenden schwammigen Moos fortzusetzen, sehen wir zeitgleich in einer Entfernung von etwa 400 Metern am Waldrand eine Bewegung. Ein Wolf! Ein Timberwolf! Weil wir mit unserer Tarnkleidung inmitten mehrerer Büsche an einem Hang sitzen, bleiben wir unerkannt.
Immer wieder verschwindet der faszinierende Räuber zwischen den zwergwüchsigen Weiden auf der vergrasten Fläche, ohne nur eine Sekunde zu verhoffen. Ich spüre, wie sich mein Herzschlag beschleunigt, wie die Anspannung steigt. Eine Begegnung, die unter die Haut geht.
Albert ist cool wie immer. „Wir müssen bleiben, wo wir sind“, flüstert er. „Wenn wir versuchen, weiter heranzukommen, kriegt er uns mit. Garantiert.“ Sicher hat er recht. Das einzige, was ich tun kann, ist, mich fertig zu machen. Vorsichtig lege ich den Rucksack auf einen großen flachen Stein, fixiere die Büchse und hoffe auf ein Wunder. Hoffe, dass der Räuber näher kommt.
Erst jetzt höre ich das Plätschern des Baches in der Nähe, der mit seinem Rauschen jedes unserer Minigeräusche überdeckt. Gut für uns, schlecht fürs Wild. Bewegungslos harren wir der Dinge, die da kommen werden.
Als sich der starke Wolf, wohl ein Rüde, nach etwas längerer Abstinenz wieder blicken lässt, versuche ich, ihn ins Zielfernrohr zu bekommen. Das klappt auch. Aber weil die Entfernung für einen sicheren Schuss immer noch viel zu weit ist, bleibt der Finger gerade.
 

Ein ganzes Rudel

 
Gut 80 Pfud bringt der Timberwolf auf die Waage, den Kirk Reed aus Saskatchewan kurz vor Toresschluss erlegte. Foto: J. Eilts
Bravo. Der Abstand zwischen Wolf und uns wird zunehmend geringer. Näher und näher kommt er. Als er etwa 300 Meter entfernt hinter einem Busch verhofft und in unsere Richtung äugt, durchdringt mich sein stechender Blick. Ich erstarre. Mein Brustkorb schnürt sich zusammen. Erst nachdem sich der Einzelgänger abwendet, füllen sich die Lungen wieder mit Luft. Höchste Zeit!
Plötzlich tippt mich Albert an und fordert mich, den Kopf nach links drehend, wortlos auf, dorthin zu schauen. Ich bin elektrisiert. Von wegen Einzelgänger. Keine 250 Meter entfernt befindet sich ein ganzes Rudel Wölfe. Mindestens 8 Stück. Wahrscheinlich mehr. Ich mag es kaum glauben. In allen Farbvariationen, von schneeweiß über grau und braun bis hin zu tiefschwarz, toben sie herum, fallen spielerisch übereinander her.
2 nahezu gleichgroße Wölfe, ein rabenschwarzer und ein dunkelgrauer, scheinen ein Paar zu sein, denn mehrmals nacheinander schmiegt sich der schwarze Räuber an seine Gefährtin. Immer wieder beißt sie ihn ab. Erst während der Paarungszeit im Frühjahr wird sie ihn erhören. Wo ist der einzeln gehende Rüde? Weg!
Ich muss handeln! Noch während ich den Lauf der Büchse im Zeitlupentempo auf das Rudel richte, jagt dieses urplötzlich ohne ersichtlichen Grund dorthin, wo vor kurzem noch der große Graue stand. Bevor es mir gelingt, einen der Räuber ins Absehen zu bekommen, ist der Spuk vorbei.
Gut eine halbe Stunde sitzen wir da wie begossene Pudel und stieren in die Botanik. Die „Geister“ bleiben verschwunden. Die Begegnung mit den Wölfen geht mir nicht aus dem Sinn. Welch großartige Wildtiere. Kein Wunder, dass sich Mythen um sie ranken. Wie zur Bestätigung wache ich nachts in der Hütte vom lautstarken Terzett dreier Räuber auf. Zunächst dringt das heisere Geheul eines weiter entfernten Isegrims an mein Ohr, dem gleich darauf ein 2. mit fester Stimme antwortet. Gut 5 Minuten dauert die Konversation, dann mischt sich ein 3. Wolf ins Zwiegespräch ein. Ein Schauer, nein, ein ganzer Wolkenbruch läuft mir den Rücken herunter.
 

Feuchter Abschied

 
Wasserflugzeuge ud Boote. Wichtiges Equipment, um in der kanadischen Wildnis zu jagen und zu überleben. Foto: J. Eilts
Angeln! Weil ich bis zur Abreise noch 2 Tage Zeit habe, stelle ich den Fischen im Nueltin Lake nach und fange mit großen Blinkern Kanadische Seeforellen (Namaycush) in Gewichten von mehr als 20 Pfund, zudem prächtige Hechte und mit der Fliegenrute Arktische Äschen in Längen von über 50 Zentimetern.
Den krönenden Abschluss bildet die größte „Laser-Lichtshow der Welt“, das sagenumwobene Nordlicht. Ergriffen stehe ich in der Dunkelheit vor meiner Hütte und bin begeistert vom Schauspiel. Erst als das glühende Lichtermeer nach einem furiosen Schlussakt schwächer und schwächer werdend in der dunklen Unendlichkeit verschwindet, lege ich mich ins Bett und versuche zu schlafen. Genauso erfolglos wie nach der Begegnung mit den Timberwölfen.
Apropos Timberwolf: In der Abenddämmerung des letzten Jagdtages gelingt es Kirk Reed aus Saskatchewan einen nahezu schwarzen Räuber zu erlegen. Gut 80 Pfund bringt der Last-Minute-Wolf auf die Waage.
Was für ein Timing: Kaum sitzen wir am nächsten Morgen im Flieger, um die Heimreise anzutreten, peitschen bereits die 1. Schneestürme über das Land. Innerhalb weniger Minuten wird alles Rote, Braune, Grüne und Gelbe von strahlendem Weiß überdeckt.
Bye bye Indian Summer! Der Winter steht vor der Tür. Wieder mal Schwein gehabt, Akki Eilts.
 

 
 

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