4/2010
Als Krone der Jagd gilt die Pirsch. Kaum eine Nation lebt und beherrscht diese Jagdart so wie die Jäger von der britischen Insel. Zwischen südenglischen Hecken und Hügeln erwarten den Gast Böcke mit Trophäen der Extraklasse.
Von Peter Diekmann
Wie alle südenglischen Rehe liebt auch dieser zweijährige Zukunftsbock den guten Überblick im Schutz von Hecken. Foto: P. Diekmann |
At least four hundred, flüstert mir Derek zu und schaut noch einmal durchs Glas, so als ob er sich nicht ganz sicher wäre. Sollte ich tatsächlich kurz vor der Erlegung eines berühmten südenglischen Kapitalbocks stehen? Lediglich die gewaltigen Enden des ruhenden Bockes ragen aus dem Grün der Wiese hervor und zeichnen sich hell gegen den Abendhimmel ab.
Geduldig warten wir auf die Auferstehung des begehrenswerten Trophäenträgers mit dem prophezeiten Gehörngewicht von mindestens 400 Gramm. Meine Wahl fällt dabei auf die stabile Seitenlage, Derek macht es sich ähnlich gemütlich. Die Blicke bleiben gen Bock gerichtet, Ruhe kehrt ein. Einzig die Mücken stören beim Genuss dieser Jagdszene.
Wer den Süden Englands bejagt, hat es nicht selten auf Gehörne in der 500-Gramm-Klasse abgesehen. Auch sechs Deutsche, die an drei Tagen rund um Shaftesbury (Grafschaft Dorset) weidwerken, träumen nicht nur von diesen, sondern vor allem von alten Böcken.
Es ist Mitte Mai, und entgegen der Aufbruchstimmung, die bezüglich der aufgehenden Bockjagd in Deutschland herrscht, bereiten sich die Engländer bereits auf das Saisonende vor. Die deutsche Gruppe ist die letzte, die vor der Brunft im Sommer auf Böcke jagt. Da die Jagdzeit bereits am 1. April beginnt, wurden die meis ten Böcke längst erlegt. Die Befürchtung, in leergeschossene Reviere zu fahren, zerschlägt sich aber bereits am ersten Abend.
Treffpunkt ist die Milton Lodge, unsere Unterkunft. Auf dem Parkplatz werden Thomas, Anton, Georg, Daniel, Rupert und ich (die Deutschen) von Derek, Roger, Nigel, Jim, Kim und Steve (die Engländer) in Empfang genommen. In den kommenden sechs Pirschgängen darf jeder mal mit jedem. Somit lernt man nicht nur auf jedem Stalk einen anderen Briten kennen, sondern auch ein anderes Revier. Alle Gebiete sind innerhalb einer halben Autostunde zu erreichen. Vom flachen Gelände bis hin zum fast bergigen Hochwald, keines gleicht dem anderen.
Suchen statt warten
Viele der erlegten Böcke hatten trotz reifen Alters Mitte Mai noch Bastreste im Geörn. Typisch sind die langen Vordersprossen. Foto: P. Diekmann |
Die erste Pirsch startet deutsch mit einem Suzuki Jimny. Roger ist der einzige der Gamekeeper, der dieses beliebte deutsche Jägerauto fährt. Leider versteht er sich nicht gut mit seinem Vehikel, er würgt es ständig ab. Schuld ist selbstverständlich immer der Wagen. Meiner Ansicht nach könnte er aber ruhig etwas mutiger mit dem Gaspedal umgehen. Sei’s drum Roger ist gesellig und ein guter Gesprächspartner. Gleich zu Beginn kündigt er zwei starke Böcke an. Der erste soll seinen Einstand in einem 10 Hektar großen Waldstück haben, das von Wiesen umgeben ist. Nachdem wir es erfolglos umfahren haben, machen wir zu Fuß weiter und schleichen auf schmalem Pfad durch das Waldstück.
Der Erfolg würde aber einem Sechser im Lotto gleichen. Deckung ist links und rechts des Weges im Überfluss vorhanden. Nach 10 Minuten und 20 Metern stellt auch Roger fest, dass wir hier nicht weiterkommen. Also wieder ins Auto und Gummipirsch die zweite. Fasanen, Hasen, Kaninchen, Tauben, Rothühner und weibliches Rehwild, alles ist massenhaft vorhanden und kommt reichlich in Anblick, nur nicht der ersehnte Bock. Später begegnen wir doch noch einem. Er ist jedoch weder kapital noch alt. Also Motor gestartet und mit mehrfachen Neustarts das nächste Ziel angesteuert.
Aber auch den Einstand des zweiten Kapitalbockes glasen wir erfolglos ab. Die Dämmerung veranlasst Roger dazu, nun mit flotten 50 km/h erneut das erste Ziel anzusteuern, um nach dem anderen Bock zu schauen. Doch das Stück, das dort im Fastdunkel am Waldrand äst, entpuppt sich als another doe, eine weitere Ricke. Zurück in der Milton Lodge strahlende Gesichter: Anton und Georg haben die ersten Böcke erlegt. Das macht Mut für den nächsten Morgen.
Aktive Jagd: Der Engländer pirscht gerne. Hochsitze findet man nur selten, benutzt werden sie fast nie. Foto: P. Diekmann |
Im Dunkeln möchte ich in den Wagen von Nigel einsteigen, der mich aber freundlich darauf hinweist, dass er gerne fahren möchte. Peinlich berührt umrunde ich das Auto und steige auf der ungewohnten linken Seite als Beifahrer ein. Nach kurzer Fahrt hält er auf einer Wiese, stellt den Motor ab und kündigt einen Auto-Ansitz an, da wir uns hier im Wohnzimmer eines sehr starken Bockes befinden. Doch der Hausherr lässt sich nicht blicken. Nigel ist wie alle Gamekeeper recht ungeduldig. Deshalb bricht er den Ansitz nach für ihn unendlich langen zehn Minuten ab und düst weiter.
Es folgen zwei sehr lange Stalks in flottem Tempo. Die Landschaft ist fürs Pirschen wie gemacht. Im Schutz der jahrzehntealten Hecken und unter Berücksichtigung des Windes pirschen wir im Eiltempo von einer Parzelle zur nächsten. Kurz vor den Übergängen wird das Tempo verlang samt, ganz vorsichtig links und rechts der Hecke alles abgeglast. Oft kommt es vor, dass Ricken sich dort niedergetan haben. Leider kein einziger Bock. In die Lodge kehren wir deshalb ohne Beute zurück. Rupert und Georg waren hingegen erfolgreich. Sie haben die Strecke um zwei weitere Böcke erhöht.
Am Nachmittag steuern wir Owl´s Lodge Shooting School an, um ein paar Tontauben zu schießen. Der berühmte Besitzer dieses Schießstandes ist Richard Faulds, der 2000 bei Olympia in Sydney Gold im Doppel-Trap holte. Leider ist sein Terminkalender für Einzelunterricht an diesem Tag bereits voll.
Am Abend werde ich Derek, dem Haupt-Gamekeeper, zugeteilt. Er genießt bei uns einen guten Ruf, hat er doch bereits zwei Bayern erfolgreich auf Böcke oberhalb der 400-Gramm-Grenze geführt. Voller Zuversicht berichtet er mir im Auto von drei sehr guten Böcken, die er anpirschen möchte. Die Bedingungen scheinen jedoch nur für einen optimal zu sein.
Strecke von drei Jagdtagen: Die Gehörngewichte der vier stärksten Böcke liegen zwischen 435 und 470 Gramm. Foto: P. Diekmann |
Seinen Einstand hat er inmitten einer Wiese, die sicher 20 Hektar groß ist. Das Gelände ist aber sehr hügelig, so dass wir uns gedeckt nähern können. Als wir einen tal ähnlichen Einschnitt einsehen können, bemerken wir zwei Rehe. Entfernung: etwa 400 Meter. Eines der beiden ist ein Bock. Beim Näherpirschen müden wir zwei Rothühner auf, die mit ihrem lauten Flügelschlag den Atem stocken lassen. Doch das Rehwild äst friedlich weiter. Als wir auf etwa 200 Meter herangekommen sind, tun sich beide Stücke nieder, von der Ricke ist nun nichts mehr zu sehen. Optimal, um weiterzukommen.
Plötzlich steht 80 Meter neben uns eine andere Ricke auf. Ich sehe unsere Chancen bereits schwinden, rechne mit lautem Schrecken. Doch nichts passiert. Wie so oft in diesen Tagen nimmt uns das Rehwild nicht als Gefahr wahr, verfolgt nur unser Tun, ohne abzuspringen, ohne zu schrecken. Ein Zeichen dafür, dass das Gebiet nicht überjagt ist.
Als wir auf etwa 100 Meter heran sind, tun auch wir uns nieder. Rechter Hand ragt eine Waldzunge in die Wiese. Bis zu ihrem Ende sind es noch 30 Meter. Immer wieder spekuliert Derek durch sein Glas, aber er ist sich sicher: Es ist der zuvor bestätigte Bock. Über 400 Gramm soll sein Gehörn schwer sein, sechs oder sieben Jahre sein Alter betragen. Nach einer halben Stunde geduldigen Wartens stehen beide Stücke auf. Ich greife nicht sofort zur Waffe, möchte die Szene noch etwas genießen. Doch die Zeit lässt der Bock mir nicht: Er fängt an, die Ricke zu treiben. Ausgerechnet in Richtung der Waldzunge, und ehe ich mich versehe, sind beide Stücke aus meinem Blickfeld entschwunden. Derek raunt mich an, ich hätte sofort schießen sollen, als der Bock aufstand. Doch für Resignation ist es zu früh.
Selbst in Südengland ist nict jeder Bock kapital: Der stärkste (links) wog 470, der schwächste (Mitte) nur 225 Gramm. Foto: P. Diekmann |
Vorsichtig robbe ich mit kurzem Dreibein an der Waldkante entlang. Meter um Meter erweitere ich das Blickfeld und in der Tat: Plötzlich sehe ich den Bock, der aber stetig gen Wald zieht. Für einen Linksschützen hätte der Winkel gerade noch gepasst, für mich leider nicht. Doch ich krieche weiter, immer schneller, bis es passt. Als es dann soweit ist, hat der Bock mich weg. Doch zu spät, das Absehen ruht auf seinem Blatt, er steht breit, der Schuss bricht. Mein Bock versinkt im Gras.
Wie von einer Tarantel gestochen, rennt Derek nun in Richtung Anschuss. Er war mir robbend gefolgt, hatte aber im entscheidenden Moment nichts gesehen. Ich bleibe ratlos zurück, frage mich, warum die Briten die berühmten fünf Minuten nicht einhalten. Als ich in Dereks Gesicht am gestreckten Bock schaue, ahne ich, was los ist: Der Bock ist nicht der vermutete. Derek hatte es auf den Vater oder Großvater abgesehen, denen er wohl zum Verwechseln ähnlich sieht. Seine hellen, langen Enden machten ihn zum Blender. Er wiegt nur 325 Gramm und ist mit drei Jahren im Grunde zu jung. Doch das Alter spielt ohnehin eher für die Deutschen als für die Engländer eine Rolle. Derek ist die Ausnahme.
Bei einem weiteren Pirschgang stehe ich am nächsten Tag vor einem wirklich Kapitalen. Doch einzig das Gehörn schaut aus den Rapsblüten heraus. Und auch bei den anderen Reviergängen soll es mit einem richtig Dicken nicht klappen. Zwar kommen einige Böcke in Anblick, allerdings sind mir alle zu jung und keiner kapital.
Infiziert vom englischen Bockfieber, will die Gruppe wiederkommen. Allerdings schon im April, mit höheren Chancen auf einen der vielen 500-Gramm-Böcke, die jede Saison rund um Shaftesbury erlegt werden.