Gänse ruhen nachts auf dem Wasser und streichen morgens hinaus zu den Äsungsplätzen. Das kann mal früher und mal später sein: in der Morgendämmerung oder erst wenn es bereits taghell ist. Da muss die Zeit für die Jagd gut gewählt sein.
Die Bewewgung der Pappschwingen soll entfernt streichende Gänse neugierig machen und zur Richtungsänderung animieren. |
Von Siegfried Kursch
Die Gänse kommen von vorn, schieß du“, sagt Tracy zu mir. Mit drei Jägern und unserem Guide sitzen wir nebeneinander auf Strohballen in einem mit einer Holzkonstruktion abgedeckten, rechteckigen Erdloch. Über jedem von uns eine Einstiegsöffnung mit einem lose aufgelegten Holzdeckel. Es ist früh morgens und empfindlich kalt. Nur nach vorn hat Tracy, unser Guide, den Deckel seines Einstieges einen Spalt angehoben und beobachtet den Himmel vor uns.
Er gibt meinen beiden amerikanischen Jagdfreunden Bill und Ralph sowie mir Order. So ist es abgesprochen: Wer von uns die beste Schussposition zu den einfallenden Gänsen hat, der soll schießen.
Mit der linken Handfläche hebe ich den Lukendeckel vorn etwas an, in der Rechten halte ich die Bockflinte mit der Laufmündung nach oben. Vor mir am klaren Himmel ein Flug von etwa zehn Kanadagänsen. Mit ruderndem Schwingenschlag sind sie im Landeanflug. Jetzt müsste es passen. Schnell den Deckel nach hinten geschoben, dann erhebe ich mich durch die Lukenöffnung und bringe die Flinte in Anschlag.
In dem dicken Overall bin ich zu unbeweglich, es geht nicht schnell genug. Sofort nach dem Öffnen der Luke nehmen die Kanadagänse sich wieder auf und steigen steil nach oben. Mir bleibt nur noch ein hingeworfener Schuss auf eine am linken Rand streichende Gans. Jedoch ohne Erfolg: Die Gänse sind schon zu hoch über mir. Beim nächsten mal muss ich schneller sein!
Das Jagdgebiet
Ganz gemütlich ist es hier im Pub. Versammelt sind etwa 50 Jäger, Männer in typisch amerikanischer Jagdkleidung. Eier mit Schinken oder Sandwichs trägt die Serviererin zu den Gästen. Auf jedem Tisch stehen große Kannen, gefüllt mit heißem Kaffee oder mit Eiswasser. Genau wie bei uns in Deutschland gibt es vor der Jagd untereinander noch viel zu erzählen.
Draußen ist es jetzt, Anfang Februar, stockdunkel und kalt. Fünf Uhr morgens ist es in Windsor /Co., einem kleinen Ort etwa 50 Meilen nördlich von Denver. Hier treffen sich besonders an Wochenenden die Gänsejäger dieser Region, einige kommen auch von weiter hier her.
Das Gebiet um Windsor ist bekannt für gute Gänsejagden. Ein großer See und verstreut kleine Teiche, umgeben von riesigen landwirtschaftlich genutzten ebenen Flächen, sind ein ideales Gänsebiotop. Auf dem See und den Teichen finden die Gänse Ruhe- und Schlafplätze, Winteräsung auf den Stoppelfeldern von Mais und Bohnen sowie auf Grünland.
Während der Jagdsaison, hier in der Central-Flyway-Zone vom 22. November bis 15. Februar auf Kanadagänse (dark geese) und vom 8. November bis 22. Februar auf alle anderen jagdbaren Gänse (light geese), haben vier Guides ein Gebiet von 2,5 bis 3,5 Kilometer Entfernung um den See von Farmern zur Gänsejagd angepachtet.
Da in den USA nicht das Reviersystem sondern das Lizenzsystem die Jagd regelt, müssen alle Jäger staatliche Lizenzen für die Jagd auf Gänse und andere Wasservögel (Waterfowl Stamps) erwerben.
Während wir Jäger uns im Pub die Zeit vertreiben, beobachtet ein Guide die auf dem See ruhenden Gänse. 10.000 bis 15.000 Gänse sollen sich dort während der Nacht aufhalten.
Der erfahrene Beobachter merkt es den Gänsen an, dass die ersten von ihnen bald vom See aufstehen werden. Immer wieder starten dann kleinere oder größere Flüge von zehn bis etwa 100 Gänsen, um in unterschiedlichen Richtungen abzustreichen. Bis alle Gänse den See verlassen haben, können ein bis drei Stunden vergehen.
Das ist gut für die Jagd. Über Handy gibt der „Beobachter“ den anderen Guides Informationen. Dann muss schnell aufgebrochen werden, um die Jäger auf die vielen Stände großflächig zu verteilen.
Mit Bills Geländewagen folgen wir dem Pick-up unseres Guides. Zunächst geht es über Wirtschaftswege hinaus in die Feldflur. Dann direkt auf einen riesigen Maisstoppelschlag. Seine Ausdehnung geht fast bis zum Horizont. Weit und breit ist kein Busch und Baum. In der Ferne erkennbar einzelne weiße Farmhäuser, umgeben von Baumgruppen. Tracy stoppt irgendwo auf den Maisstoppeln.
Wie er uns sagt, ziehen über diesen Bereich gern die vom See kommenden Gänse. Hier hat Tracy unter Flur einen für vier Jäger ausreichenden Erdsitz, von amerikanischen Jägern „Pit“ genannt, angelegt. Nur die vier erdfarbenen Einstiegsdeckel sind oberirdisch erkennbar.
Tracy hat 50 Plastiklockgänse mit, die er, wir helfen ihm natürlich, langgestreckt quer zur erwartenden Flugrichtung der Gänse aufstellt. Es müssen so viele der Attrappen sein, da sonst die Gänse nicht reagieren. Auch sollen die Plastikgänse nicht alle in eine Richtung ausgerichtet sein und einige etwas abseits zum Haupttrupp positioniert werden, informiert uns der Guide.
Nun bringen Tracy und Bill ihre Fahrzeuge weg. Mindestens 500 Meter entfernt werden sie auf einem Weg abgestellt. Zu Fuß kommen beide zurück. Tracy hat seinen jungen Labradorrüden „Sieg“ aus dem Fahrzeug mitgebracht. Er soll die erlegten Gänse apportieren.
Warten voller Passion
Wir sind in den Erdsitz eingestiegen. Tracy hat noch etwas Boden auf unsere Einstiegsluken gestreut und kontrolliert, dass nichts auf der Stoppelfläche an uns Jäger erinnert, denn Gänse äugen sehr gut und würden trotz der Lockgänse niemals einfallen, wenn ihnen etwas als „nicht normal“ auffallen würde.
Der Labrador hat sich im Stroh an der Sohle des Erdsitzes zusammengerollt. Er kennt den Ablauf. Nun beginnt das Warten. In der Ferne, Richtung See, sehen wir mit dem Fernglas immer wieder mal kleinere, mal größere Gänseschwärme am Himmel. Sie streichen aber nicht in unsere Richtung. Jetzt kommt aber aus der Ferne ein Flug auf uns zu. Zwei schwarze Pappflügel hält Tracy in den Händen und imitiert den Schwingschlag einer Gans. So soll der Gänseschwarm aufmerksam auf die aufgestellten Lockgänse werden.
Jetzt hat Tracy den Deckel über seinem Einstieg geschoben und nur noch einen Spalt angehoben. Mit einem Gänselocker imitiert er nun immer wieder den Gänseruf. Es scheint zu klappen. Bill soll sich fertig machen, sagt Tracy zu ihm.
„Shoot“, ruft er jetzt zu Bill. Nun geht alles sehr schnell. Bill schiebt den Einstiegsdeckel zurück, richtet sich schnell auf und hat die Flinte angebackt. Zwei Schrotschüsse fallen kurz hintereinander. Bill hat zwei Kanadagänse erlegt, eine echte Dublette, good luck. Schnell hebt Tracy den Labrador durch die Luke. Er apportiert nacheinander beide Gänse und muss nun wieder in den Ansitz zurück.
Immer mehr Gänse streichen in unsere Richtung. Die meisten streichen hoch über uns hinweg oder an unserem Erdsitz weit entfernt vorbei. Sie lassen sich weder durch die Lockgänse noch durch den Lockruf überlisten, einzufallen.
Ein neuer Flug Gänse zieht laut rufend direkt auf uns zu. Wenn sie denn einfallen werden, soll ich schießen. „Mach dich schon mal bereit und schieß, wenn die Gänse kurz vor dem Einfallen die Schwingen breit haben“, sagt Tracy zu mir, „shoot“. Deckel zurück und mit der entsicherten Flinte hoch und angeschlagen sind eins. Vor mir in etwa acht Metern Höhe über den Maisstoppeln etwa zehn bis zwölf Gänse.
Zwei Schrotschüsse gebe ich kurz hintereinander auf eine Gans ab. Durch den ersten Schuss wird die Gans nur geflügelt, noch in der Luft erhält sie die zweite Schrotgarbe und fällt wie ein Stein zu Boden: meine erste Kanadagans. Die anderen Vögel steigen sofort laut rufend steil hoch und streichen ab. Wieder muss der Hund apportieren. In der nächsten Stunde können Jagdfreund Ralph und auch ich noch je eine Gans erlegen, dann ist der Morgenstrich vorbei.
Tracy ist mit dem Ergebnis des Morgenstrichs nicht zufrieden. Hat er im vorigen Jahr in seinem Teil noch 1 718 Gänse zusammen mit seinen Gastjägern erlegt, sind es in diesem Jahr kurz vor Saisonende gerade mal 720 Gänse. Das liegt sicher nicht an einer schlechten Trefferquote der Gastjäger, denn die meisten der amerikanischen Gänsejäger sind sehr passioniert, einige jagen ausschließlich auf Wasserwild.
„In diesem Jahr streichen die Gänse nicht so gut“, stellt Tracy fest. Es ist für die Jagd nicht kalt genug; auch ist das Wetter zu offen. Die Gänsejagd ist besonders witterungsabhängig.
Hinzu kommt sicher auch, dass die Gänse durch die intensive Bejagung vorsichtiger geworden sind, entgegne ich ihm. Es ist interessant: „Ursachenforschung“ unter Jägern, hier nicht anders als auch bei uns. Immer wollen wir ergründen warum! Es fällt uns Jägern nicht leicht, einfach hinzunehmen, dass es neben guten auch weniger gute Jagdjahre gibt.
Kanadagänse
Charakteristisch für Kanadagänse (Branta canadensis) sind der graue Rumpf mit langem schwarzen Hals, dem schwarzen Kopf mit schwarzem Schnabel, schwarze Ständer und Latschen, sowie der schwarze Stoß mit weißem Unterstoß. Gans und Ganter zeigen nur unwesentliche Farbunterschiede.
Kanadagänse haben eine ausgedehnte weiße Fleckenzeichnung am schwarzen Kopf. Die Brust und der Bauch sind weiß. In Nordamerika kommen Kanadagänse in elf Unterarten vor. Auch Kreuzungen mit anderen Wildgänsen sind zu beobachten.
Kanadagänse erreichen Gewichte von drei bis sechs Kilogramm. Die Ganter sind größer als die weiblichen Exemplare. Die Kanadagans ist die größte und häufigste unter den Wildgänsen Nordamerikas.
In Colorado ist in großer Zahl die „Lesser Canada Goose“ (Branta canadensis parvipes) anzutreffen. Sie ist die Gans der südlichen Wald- und Prärie-Regionen.
Auch die Giant Canada Goose (Branta canadensis maxima), die größte unter den Kanadagänsen Nordamerikas, gibt es in Colorado. Mit einem Gewicht von sechs Kilogramm und mehr hat sie eine Flügelspannweite von bis zu 1,80 Metern.
Kanadagänse leben in Nordamerika auf Teichen und Seen, in Buchten, an Flüssen und in Sumpfgebieten. Sie können oft bei der Futteraufnahme auf offenem Grasland und auf Feldern in großen Flügen beobachtet werden. Einige Populationen sind mittlerweile domestiziert. Im städtischen Umfeld schaffen große Park- und Rasenflächen ideale Bedingungen zum Rasten, bei der Mauser, der Aufzucht der Brut und zur Futteraufnahme.
Mittlerweile bleiben einige Kanadagänse das ganze Jahr über in Colorado. Andere streichen als Zugvögel im Sommer bis nach Kanada und Alaska und suchen im Winter weit südlich gelegene Gebiete wie Texas, Südkalifornien und auch Teile Mexikos auf.
Kanadagänse ernähren sich auf Feldern vom Getreide und Ernterückständen. In Sumpfgebieten leben sie von Gräsern, Wildreis und Wasserpflanzen. Aber auch Insekten, Larven und andere Weich- und Schalentiere werden aufgenommen.
Die Brutsaison beginnt im März. Die weibliche Gans baut das Nest und brütet in 24 bis 30 Tagen das Gelege von fünf bis sechs Eiern alleine aus. Der Ganter ist in der Nähe und hält Wache. Die geschlüpften Gänseküken werden von beiden Elterntieren betreut. Die Gänsefamilie bleibt während der Vogelzugperiode und im Winter zusammen.
In einigen Teilen der Vereinigten Staaten werden Kanadagänse gelegentlich zur Plage. Sie gehen in Feldern zu Schaden und können in städtischen Parks und auf Golfplätzen in großen Flügen einfallen. Kanadagänse können sich außerordentlich gut an die Gegenwart des Menschen anpassen.
Außer der Jagd kann in Colorado von Landbesitzern zur Regulierung örtlicher Gänsepopulationen eine Lizenz zur Vernichtung der Gelege und Nester eingeholt werden. Die schriftliche Genehmigung der Colorado Division of Wildlife ist unbedingt erforderlich, bevor Eingriffe erfolgen.
Trotz allem ist es immer wieder ein Erlebnis, den typischen Ruf der Kanadagänse am Himmel, wo sie in V-Formation ziehen, zu vernehmen. Dieses Naturschauspiel begleitet in Nordamerika immer wieder neu den Wechsel der Jahreszeiten.
Gewöhnungsbedürtig ist der Schuss aus einem solchen Erdloch auf streichende Gänse. |
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Jagd in Colorado
Fotos: Siegfried Kursch