Man kann Estland zwar noch nicht als ein Rotwild-Paradies bezeichnen, doch die Entwicklung der letzten Jahre lässt aufhorchen.
Ein junger Hirsch zeigt schon die gute Veranlagung. |
Von Hans Freiherr von Stackelberg
Wer als Jäger heute von Estland als Jagdziel mit vielfach noch unberührter Natur träumt, denkt dabei vor allem an Bär, Wolf, Luchs und natürlich an den Elch. Aber mancher ist bereits mit der Trophäe eines kapitalen Rothirsches heimgekehrt. Grund genug, sich einmal mit dem dortigen Vorkommen dieser Wildart zu befassen.
Ungeachtet dessen, dass während prähistorischer Wärmeperioden das Rotwild vorübergehend das nördliche Baltikum stellenweise besiedelt haben könnte, kann man heute sagen, dass im Gegensatz zum Elch das Rotwild nicht zu den typischen Ureinwohnern des Landes gehört.
Und während das Elchwild heute flächendeckend das gesamte Land in einer Größenordnung von zirka 10.000 Stück besiedelt – Tendenz steigend – spielte das Rotwild-Vorkommen auf dem Festland bisher nur eine unwesentliche Rolle. Sehr unterschiedlich präsentieren sich dagegen die beiden der estnischen Westküste vorgelagerten Inseln Saaremaa (Ösel) und Hiiumaa (Dagö) inzwischen als Hochburgen dieser Wildart.
Einbürgerung des Rotwilds
Die Einbürgerung des Rotwildes nahm in Estland einen abenteuerlichen Verlauf. So ist der heutige Rotwild-Bestand ursprünglich nur auf die Einbürgerungsversuche durch den Menschen zurückzuführen. Rot- wie vor allem auch Damwild, das heute in Estland völlig fehlt, wurde zunächst in den vergangenen beiden Jahrhunderten als Park- und Gatterwild eingeführt, von wo aus sehr wahrscheinlich bereits in dieser Zeit einzelne Stücke in die Freiheit gelangten, ohne sich jedoch dabei irgendwo als Standwild halten zu können.
Erst 1927 gelang es, auf die Initiative eines damals in Deutschland tätigen estnischen Konsuls hin, aus Deutschland eingeführtes Rotwild auf der kleinen Insel „Abruka“ auszuwildern, wo es bei mildem Seeklima noch über 100 Hektar Laubwald der atlantischen Periode vorfand, der sonst in Estland kaum mehr zu finden ist.
Das 1944 immerhin etwa 15 Stück zählende Rudel wurde im Laufe des Kriegsgeschehens völlig ausgelöscht. Aber bereits 1946 konnten aus einem Fährschiff, mit aus dem Berliner Zoo ins damalige Leningrad gelieferten Rotwild, während eines Zwischenstopps an der Ostküste der Insel Saaremaa (Ösel) drei Tiere und ein Hirsch aus mangelhaften Käfigen entweichen. Obwohl der genauere weitere Werdegang dieses ersten, auf der Insel zu verzeichnenden Rotwild-Rudels nicht verfolgt wurde, gilt inzwischen Saaremaa (Ösel) als das eigentliche Herz des estnischen Rotwildbestandes.
Saaremaa und Hiiumaa
Über diese Insel aber besteht heutzutage noch recht wenig Kenntnis. Saaremaa ist mit 2.671 Quadratkilometern, nach den beiden dänischen Inseln Seeland und Fünen sowie dem schwedischen Gotland, die viertgrößte Insel im gesamten Ostseeraum. Ihre 1.300 Kilometer lange, äußerst vielgestaltige Küste ist bisweilen recht steinig, dann jedoch wiederum mit sandigen Dünen ausgestattet; sie präsentiert sich örtlich aber auch mit einigen steilen Felsklippen. Dichter Wacholder dringt stellenweise bis fast an das Wasser vor.
Im Inneren der Insel prägen weiträumige geschlossene Waldgebiete das Landschaftsbild. Sporadisch eingestreute landwirtschaftliche Nutzflächen bilden dazwischen vielerorts aber auch recht lange Feld-/Waldgrenzen, die wiederum abwechslungsreiche Äsungsgebiete schaffen. Da Saaremaa während der sowjetischen Besatzungsepoche jahrzehntelang militärisches Sperrgebiet war, konnten sich dort besonders die Schalenwildbestände relativ ungestört entwickeln.
Das erste als wirklich dauerhaftes Standwild einzustufende Rotwild-Vorkommen geht auf den Anfang der 70er Jahre zurück, als aus Südwest-Russland und ebenso aus Litauen stammendes Rotwild auf Saaremaa wie auch auf Hiiumaa, der zweitgrößten Insel Estlands, ausgewildert wurde. Es konnte sich in den weiträumigen geschlossenen Waldgebieten der großen, recht dünn besiedelten und weitgehend störungsfreien Inseln, mit vor allem auch äußerst geringem Wolfsvorkommen, schnell vermehren. 1993 wurde dann bei amtlich durchgeführten Wildzählungen auf Hiiumaa bereits ein Rotwild-Bestand von 500 Stück registriert. Auf Saaremaa wuchs der Bestand bis zum Jahre 2000 nach amtlichen Angaben sogar auf über 900 Stück an.
Fotos: Stefan Meyers
Auf dem Festland
Auf dem Festland
Auf dem Festland vollzog sich der Ablauf dagegen bedeutend zögerlicher. Hier erfolgte zum einen eine schleppende Zuwanderung aus Lettland über die „grüne Grenze“ in den Süden des Landes. Zum anderen aber gelangte im äußersten Südosten Estlands aus einem dort gelegenen Hirschpark Gatterwild in die Freiheit, das unmittelbar vor Ort in den umliegenden, stark bewaldeten Sumpfgebieten vorzügliche Lebensbedingungen vorfand, was zu einem weiteren Verbreitungsgebiet beitrug.
Derzeit trifft man Rotwild, bei allerdings recht unterschiedlichen Größenordnungen, in etwa zehn Landkreisen an. Eine amtlich anerkannte landesweite Wildzählung durch den estnischen Jagdverband ergab dabei im Jahre 2000 einen Gesamtbestand von etwa 1.500 Stück, wobei der Bestand seit der Zählung von 1990 (zirka 900 Stück) in den letzten zehn Jahren um 600 Exemplare zugenommen hat.
Hier kommt allerdings in erster Linie der starke Zuwachs auf der Insel Saaremaa zum Ausdruck. Auf Hiiumaa ist dagegen in jüngster Vergangenheit ein merklicher Bestandsrückgang zu verzeichnen. Einer der Gründe dafür wird dem dort in den letzten Jahren ungewöhnlich stark ansteigenden Luchsbesatz zugeordnet.
Bei diesbezüglichen Kommentaren des Estnischen Jagdverbandes wird darauf hingewiesen, dass in langjährigen polnischen Untersuchungen im Naturschutzgebiet von Bialowieza die durchschnittliche monatliche Beutemenge eines Luchses dahingehend festgestellt werden konnte, dass einem ausgewachsenen Luchs in diesem Zeitraum neben vier Stücken Rehwild rein rechnerisch auch 1,5 Stücke Rotwild zum Opfer fallen, was sich pro Luchs im Laufe eines Jahres immerhin auf rund 18 Stück Rotwild erhöht. Natürlich handelt es sich dabei in erster Linie um Kälber und schwächere Tiere, was den Gesamtverlust jedoch nicht geringer macht.
Auf dem Festland sind ergänzend dazu natürlich auch immer wieder Wolfsrisse zu verzeichnen, die den Bestand kurz halten. Wobei schon kleine Rudel in den strengen Wintermonaten, vor allem bei hohen Schneelagen, auch vor stärkeren, jedoch vielfach nach der Brunft geschwächten Hirschen nicht Halt machen.
Die Bejagung des Rotwildes
Die Bejagung des Rotwildes
Jede Art von Wahl-Abschuss nach vorgegebenem Hegeplan war bei der Bejagung des Rotwildes in Estland bis vor kurzem noch beinahe ein Fremdwort. Fehlabschüsse zu junger, gut entwickelter Zukunftshirsche, besonders auf Saaremaa, wirkten sich dann auch entsprechend negativ aus. Immer mehr verlagerte sich dabei der Abschuss auf Trophäenträger vom 5. bis 8. Kopf, immer weniger wurden reife Erntehirsche erlegt.
Man hat sehr wohl im Estnischen Jagdverband inzwischen das ungünstig verrutschte Verhältnis bei der teilweise zu intensiven Bejagung von Hirschen im Mittelalter erkannt. Es wird aber in diesem Zusammenhang auch auf die unterschiedlichen Lebenserwartungen der dortigen Trophäenträger gegenüber denen in Mitteleuropa hingewiesen.
Die Länge der Lebenserwartung eines Geweihträgers in Mitteleuropa liegt nämlich ganz im Gegensatz zu der in Estland alleine in der Entscheidungsgewalt des Jagdausübungsberechtigten. Es ist rein menschlich gesehen sicher verständlich, wenn im Unterschied dazu ein Jäger in Estland bei entsprechend selten gegebener Gelegenheit versucht ist, eine sich ihm bietende Jagdchance zu nutzen.
Die amtlichen Wildzählungen der letzten Jahre zeigen, dass sich der Rotwild-Bestand in Estland inzwischen stabilisiert hat, und man ist durch vielerlei Maßnahmen bemüht, eine steigende Tendenz zu erreichen, auch wenn örtlich bisweilen die Sorge vorgetragen wird, ein anwachsender Rotwild-Bestand könnte dann stellenweise das dortige Elch-Vorkommen zurückdrängen. Da hierzu aber noch keine konkreten Erfahrungen vorliegen, ist man derzeit allerorts um eine vielschichtige Hege des Rotwild-Bestandes bemüht.
So wurde bereits in den letzten Jahren bei der Bejagung im Schnitt nie mehr als maximal zehn bis zwölf Prozent dem jeweiligen Bestand entnommen. Auf der Insel Hiiumaa wurde ferner aufgrund des dort ausufernden Luchsbesatzes der Abschuss von Kälbern drastisch reduziert. In der Planung zur weiteren Förderung einer möglichst waidgerechten Bejagung des Rotwildes ist außerdem die Erstellung von Info-Material mit entsprechenden Abbildungen, das zukünftig jeder Jäger gleichzeitig mit dem Erwerb einer Abschussgenehmigung erhält. Nicht zuletzt durch mangelnde Kenntnis im Ansprechen wurden bisher in zu großer Zahl Fehlabschüsse getätigt.
Ein Fehlabschuss hatte in der Vergangenheit keine ernsthaften Folgen für den Schützen, was sich nun aber ändern soll. Aus dem gleichen Grunde wird auch angestrebt, die Jagd möglichst auf das Pirschen und Ansitzen zu beschränken, da bei Treib- und Drückjagden erfahrungsgemäß mit einer noch größeren Zahl von Fehlabschüssen zu rechnen ist.
Daraus resultierend wird für Hirsche sogar über eine verkürzte Jagdzeit mit Beschränkung auf die Monate September/Oktober nachgedacht, (bisher erstreckt sich die Jagdzeit für das Rotwild einheitlich vom 1. September bis zum 31. Januar). Auch beim Kahlwild, mit Ausnahme der Kälber, die nach wie vor bis Ende Januar frei bleiben soll die Bejagung bereits im Dezember enden. Der Kahlwild-Abschuss sollte auch keinesfalls mehr als höchstens die Hälfte vom Gesamtabschuss ausmachen.
Nicht zuletzt werden jetzt auch in Estland Trophäen-Schauen angestrebt, bei denen zwingend alle Trophäen zusammen mit dem Unterkiefer vorzulegen sind. Letztendlich aber lässt die seit einigen Jahren praktizierte scharfe Bejagung des Wolfsbesatzes eine Zunahme des Rotwild-Bestandes vor allem auch auf dem estnischen Festland erhoffen. Das Schwergewicht der estnischen Rotwild-Population konzentriert sich jedoch nach wie vor auf die Inseln, wobei Saaremaa mit seinem anwachsenden Bestand das Herzstück darstellt. Die stärksten Trophäen sind allerdings auf der Insel Hiiumaa zu finden. Hier konnten seit Anfang der 80er Jahre mehrfach Trophäen mit über 225 CIC-Punkten erbeutet werden.