Im Pamir

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Jagdreise auf das Dach der Welt: Nach etlichen Trainingseinheiten fühlte ich mich auf diese Reise nach Kirgisien gut vorbereitet. Dass mich die Jagd am Berg trotzdem in Grenzbereiche physischer Belastbarkeit führen sollte, hatte ich nicht für möglich gehalten.

Von Dr. Carsten Wöller

Freitag 8. November 2002

Mit einer leichten, frohen Unruhe im Bauch beginnt meine Pamirexpedition. Der erste kleine Patzer passiert uns schon auf der Hinfahrt zum Berliner Flughafen Tegel. Die Autobahn ist urplötzlich Baustelle, Abfahrt verpasst, wir stecken fest. Nach einigem hektischen Suchen finden wir jedoch bald wieder die richtige Strecke. Abfertigung und Flug verlaufen reibungslos. Nach Umsteigen in Istanbul und nicht enden wollenden zehn Stunden Flugzeit werde ich in Bischkek empfangen.

Von der Gepäckabfertigung bekomme ich nichts mit. In einem bequemen Aufenthaltsraum lerne ich meinen amerikanischen Mitjäger kennen. Bob, schon 69, reist mit seinem Freund und Jagdvermittler Rick. Bob war mir schon im Flugzeug aufgefallen. Er war jagdlich gekleidet und als ich sah, wie er schmerzverzerrt an seiner Schulter herumdokterte und gymnastische Übungen versuchte, machte ich mir so meine Gedanken.

Nun heißt es wieder sechs Stunden warten, denn wir fliegen erst um 9 Uhr nach Osh weiter. Zeit genug sich zu unterhalten, was mir in englisch nur leidlich gelingt. Bob hat als alter Schafjäger natürlich die meisten Schafe schon erlegt, vom amerikanischen Grand Slam bis zum Altai-Argali in der Mongolei. Interessiert höre ich zu, denn dieses Wild steht auf meiner jagdlichen Wunschliste ganz weit oben. Auch ich berichte von meinen Jagdreisen, die mich bisher nach Skandinavien, in die rumänischen Karparten, Spanien und nach Zentralasien geführt haben. Rick erzählt von seinem Leben als Berufsoutfitter und seinen Outfitts in Alaska. Gegen 5 Uhr früh beschließen wir doch ein Stündchen zu schlafen.

Samstag 9. November

Wir werden in eine Propeller betriebene „Antonov“ verfrachtet und mit ohrenbetäubendem Lärm geht es ab nach Osh. Gottlob die Ohrenstöpsel. Dort erwartet uns ein aus Armeebeständen stammender Allradkleinbus. Die zwölf Stunden Fahrt bis zum Camp muss man nicht näher schildern. Sie waren einfach ein Genuss für alle beteiligten Bandscheiben…

Am höchsten Pass machen wir eine Pause. Beim Aussteigen in 4.600 Meter Höhe habe ich doch ein flaues Gefühl in der Magengegend und leichte Gleichgewichtsstörungen. Nachts um 2 Uhr falle ich nach 42 Stunden Reise einfach nur noch erschöpft in mein, ja man höre und staune, breites, gemütliches Bett in einem zentralgeheizten Zimmer. Die Baracke ist über einer heißen Quelle gebaut und wird mit heißem Wasser aus dem Erdinnern beheizt. Das Camp „Hot Springs“ macht seinem Namen bisher alle Ehre.

Sonntag 10. November

Als ich morgens um 7 Uhr aufwache, sind sie da: die verhassten Kopfschmerzen. Ich stehe auf und merke, da ist noch mehr nicht in Ordnung. Leicht schwindelig, flau im Magen und ein leichtes Flimmern vor den Augen, das heißt – Blutdruck, du bist im Keller. Das mitgebrachte Messgerät gibt schnell Gewissheit. Ein paar Tropfen zum Kreislauf stabilisieren, eine Aspirin und fertig. Beim Frühstück würge ich mir das Rührei herunter. Ich trinke viel grünen Tee und lasse mir von der Köchin, die gleichzeitig Lagerärztin ist, nochmals den Blutdruck messen. Das sieht schon besser aus.

Da der zweite Tag normalerweise zum Akklimatisieren und Ausruhen gedacht ist und sich wieder die lieben Kopfschmerzen bemerkbar machen, beschließe ich erstmal, nach dem Mittag ein Nickerchen zu machen. Gerade bin ich weggetreten, da springt die Tür auf und jemand ruft herein: „Auf geht´s zur Jagd!“ Da noch nichts vorbereitet ist, krame ich relativ hektisch aus meinem bisher unberührten Gepäck das Nötigste zusammen und hoffe, nichts vergessen zu haben. Beim Schuhe-Zubinden springt mir fast die Schädeldecke ab. Also rasch noch eine Aspirin und ab geht´s. Der Probeschuss am Vormittag saß gut, und ich bin guter Dinge.

Nach zehn Kilometern Jeepfahrt erstes Abglasen und siehe da, in zwei Kilometer Entfernung zwei Rudel Marco Polo, zirka 50 Stücke, alles weibliche und junge Widder. Das geht ja gut los! Beim zweiten Abglasen nehmen wir uns mehr Zeit und finden wiederum zwei Rudel, diesmal mit stärkeren Widdern dabei. Einen schauen wir uns durchs Spektiv genauer an. Wir verständigen uns darauf, dass ich einen Widder über 55 Inch suche, und weil erst der erste Tag ist, soll der nach unserer Schätzung 52-Inch-Widder weiterziehen. Da macht Sascha beim zweiten Rudel einen starken Widder aus und wir beschließen, die Sache zu versuchen. In die Schneeanzüge geschlüpft und ab geht´s, es sind immerhin drei Kilometer zu überwinden.

Der flache Teil macht sich noch recht gut. Auch die Kopfschmerzen sind weg. Dann, nach zwei Kilometern, geht es bergauf in 4 800 Meter Höhe. Wir müssen uns beeilen, denn die Widder – es hat sich noch ein Rudel mittelalter Herren dazugesellt – haben die Kuppe bereits überriegelt. Aber wie soll das schneller gehen, wenn man nicht kann? Meine Mütze habe ich schon in der Hand, den Mund weit offen und in den Beinen nur noch Pudding. Mein Puls rast wie ein ICE. Da müssen auch die letzten Kraftreserven noch mobilisiert werden, und nach Luft japsend halte ich Anschluss. Das ist auch gut so, denn Safra, der andere Guide geht in Downstellung, reißt den Rucksack vom Rücken, und schon liege ich da und sehe die Widder recht eilig aus der Talmulde zur nächsten Kuppe ziehen. Sie haben uns längst mitbekommen, und die ersten fünf sind schon hinter der Kuppe verschwunden. Es schwindet auch langsam das Licht. Mit meinem Entfernungsmesser fuchtelt Safra wild umher und ruft nur: „Pasledni bolschoi! (der letzte, groß), 350 Meter!“

Im Zielfernrohr sehe und erfasse ich den letzten Widder, der tatsächlich eine enorme Auslage hat und sehr stark wirkt. Er ist der letzte der Gruppe und zieht im Troll schräg von mir weg über die Kuppe. Da in solchen Momenten keine Zeit für Abwägungen ist, habe ich den Finger am Abzug und die Kugel ist raus. Ein kurzes Zusammenrucken kann ich erkennen, Kugelschlag hören, dann ist er hinter der Kuppe verschwunden. Jetzt fängt das Gehirn wieder an zu arbeiten. Meine beiden Guides schreien und fuchteln und umarmen mich. Ist das ein gutes Zeichen?

Mir ist nicht wohl dabei. Dann eröffnen sie mir noch, dass 100 Meter weiter die afghanische Grenze ist und sie morgen den Widder bergen wollen. Na wenn das mal gut geht! Freudige Stimmung kann bei mir jedenfalls noch nicht aufkommen, und das flaue Gefühl in der Magengegend kommt jetzt bestimmt woanders her. Meine Guides lassen sich jedenfalls keine Zweifel anmerken und sind sich sicher, dass sie morgen meinen Widder aus Afghanistan holen werden. Na ja, wir werden es sehen.


Fotos: Dr. Carsten Wöller

Teil 2

Montag 11.November

Die Nacht war sehr anstrengend. Zu viele Gedanken drängten sich immer wieder auf und ließen mich stundenlang nicht schlafen. Falls der Widder liegt, will ich natürlich weiterjagen, denn heute allein im Camp geblieben zu sein, ist schon Strafe genug, und ich habe noch acht volle Jagdtage.

Allerdings, bei der geringen Trophäenstärke der Steinböcke und der überwältigenden Stärke der Marco-Polo-Widder kommen in mir Zweifel hoch, ob es nicht besser wäre, auf einen weiteren Widder zu jagen. So günstig komme ich nie wieder zu solch einer Weltklassetrophäe, und die Marco-Polo-Jagd ging mir auch etwas zu schnell. Meine Akklimatisierung geht auch voran. Ich fühle mich heute schon bedeutend besser. Nach dem Frühstück mache ich einen kleinen Spaziergang um das Camp und dabei ein paar Erinnerungsfotos. Dabei werde ich von wachsamen, aber gleichzeitig verspielten Wolf-Husky-Hunden begleitet. Danach heißt es erneut warten.

Endlich sind sie da, den Widder im Jeep. Nach dem Ausladen kann ich ihn bestaunen. Jetzt kommt die Freude hoch: Mein Schuss saß besser als erwartet mitten auf dem Rücken. Damit konnte er nicht weit kommen und Sascha fand ihn auch nach 300 Metern, allerdings in Afghanistan. Auch die Trophäe stellt mich zufrieden – ein gut „gecurlter“ 58 Inch-Widder mit starker Basis. Wenn die Hornenden nicht so stark abgenutzt wären, hätte er die 60 Inch überschritten.

Es war eine fantastische Jagd, anstrengend, mit weitem, schwierigem Schuss und einer tollen Trophäe belohnt. Nur leider viel zu kurz. Mittags kehrt auch Bob erfolgreich zurück. Er erlegte einen ähnlichen Widder und musste sogar noch weiter schießen. Wir erzählen unsere Erlebnisse und machen Erinnerungsfotos.

Dann beschließen wir, doch früher heimzukehren. Wladimir organisiert alles und teilt uns mit, dass wir heute Abend schon um 22 Uhr abreisen können. So geht es schon wieder ans Einpacken, wo noch nicht mal die Hälfte ausgepackt ist. Egal, zu Hause wird man sich hoffentlich über eine frühere Heimkehr freuen. Um 23 Uhr sind dann die Sachen in zwei Jeeps verstaut und wir fahren nach Murgab zurück.

Dienstag 12. November

In Murgab geht es erstmal nicht weiter. Nach drei Stunden Fahrt übernachten wir beim dortigen Veranstalter. Um sechs Uhr früh fahren wir dann mit einem Kleinbus weiter nach Osh. Fünf Stunden bis zur Grenze, dann drei Stunden Grenzüberschreitung – zehn Kontrollpunkte müssen geduldig passiert werden, und bei jedem wird endlos lange in unseren Papieren gelesen. Schließlich weitere fünf Stunden Fahrt, inklusive Autopanne, bis wir endlich in Osh ankommen. Dann die nächste frohe Kunde. Kein Flug nach Bischkek möglich – technische Probleme am Flughafen.

Wir werden in ein Hotel gebracht und übernachten dort. Eine Toppadresse, es ist saukalt und warmes Wasser gibt es auch nicht. Ich glaube, wir sind die ersten Gäste in diesem Jahr. Geduldig ertragen wir alles und nach zwei Stunden ist die Heizung repariert und auch ein bisschen warmes Wasser da. Morgen soll es weiter gehen nach Bischkek und über Istanbul nach Berlin.

Mittwoch 13. November

Trotz aller Widrigkeiten habe ich sehr gut geschlafen. Pünktlich werden wir abgeholt und der Flug nach Bischkek verläuft planmäßig. Organisation in GUS-Staaten ist alles andere als leichte Kost, aber Wladimir hat alles gut im Griff. Wir werden erstklassig betreut.

In Bischkek die nächste Hiobsbotschaft: Der letzte Flieger nach Istanbul flog heute um vier Uhr ab. Der nächste geht frühestens in vier Tagen. Das heißt vier Tage im Hotel langweilen und Geld ausgeben für nichts. Auf der Fahrt in die Stadt kann ich innerhalb einer halben Stunde mit Vitaly, der für den hiesigen, kirgisischen Jagdveranstalter arbeitet, eine Steinbockjagd aushandeln, die in der Nähe von Bischkek stattfindet und genau in meinen Zeitplan passt. Denn ich bin zum Jagen hergekommen, nicht zum Herumreisen und Hotel-Besichtigen.

Nachdem Bob und Rick umgebucht haben, fahren wir in ein Hotel. Bis morgen soll meine Jagd organisiert sein. Alle Achtung!

Donnerstag 14. November

Den Tag verbringe ich mit Warten im Hotel. Gegen Mittag kommt Wladimir mit dem kirgisischen Jagdoutfitter, um die Steinbockjagd zu besprechen und definitiv klarzumachen. Wir klären alle anstehenden Fragen und werden uns einig.

Morgen um neun Uhr soll es losgehen ins Jagdcamp Kara Balta, etwa zwei bis drei Autostunden von hier entfernt. Mir bleiben sechs volle Jagdtage. Das muss reichen. Den Rest des Tages verbringe ich mit Gepäckumstapeln, Schlafen und Fernsehen, um nicht an Langeweile zu sterben.

Teil 3

Freitag 15. November

Pünktlich werde ich am Morgen abgeholt. Nachdem ich mich von meinen amerikanischen Freunden Bob und Rick verabschiedet habe, geht es ab ins Gebirge zu meinem neuen Jagdlager. Leider ist von den Bergen nicht viel oder besser gar nichts zu sehen. Das Wetter hat umgeschlagen und es ist so neblig geworden, dass man keine 50 Meter weit sehen kann.

Die Campbesatzung ist durchweg sehr freundliches Personal und auch lustig aufgelegt. Die Innenaustattung des Jagdhauses kann man im Vergleich mit sonst üblichen Jagdcamps für Steinbockjagden mit einem 5-Sterne-Hotel vergleichen. Auch das Essen ist ausgesprochen gut. Das alles hebt ein wenig die Stimmung, trotz des unverändert schlechten Wetters. Wenn es sich in der Nacht aufklaren sollte, geht es um halb vier Uhr auf die Pferde und zur Jagd. Wenn nicht, wird ausgeschlafen und es ist wieder ein Jagdtag verloren. Hier hilft nur noch Daumen drücken.

Samstag 16. November

Wie kann es anders sein, ich habe ausgeschlafen. Erst gegen zehn Uhr reißt die Nebelsuppe für kurze Zeit auf und erlaubt mir einen kleinen Spaziergang. Endlich habe ich den Blick frei auf diese herrliche Gebirgslandschaft. Überall purren Steinhühner herum. Ein El Dorado für Niederwildjäger.

Und tatsächlich kommen jährlich genau so viel Gruppen zur Hühnerjagd aus Italien hierher, wie zur Steinbockjagd. Auch auf den Gegenhängen kann man die Völker mit bloßem Auge laufen sehen. Ein Steinadler schwebt majestätisch heran. Auch er interessiert sich – wie die Italiener – vorwiegend für die Steinhühner. Mit dem Fernglas kann ich auch einige Stücke Sibirisches Rehwild ansprechen. Dann mache ich noch ein paar Fotos und kehre zum Mittagessen ins Jagdhaus zurück.

Schon schließen sich wieder die Nebelvorhänge und man kann nur noch etwa 30 Meter weit sehen. Es ist einfach zum Verzweifeln. Mir bleiben nur noch fünf Jagdtage. Werden sie ausreichen?

Sonntag 17. November

Um halb vier Uhr morgens ist Wecken. Nach einem ausführlichen Frühstück geht es auf die Pferde. Die Sicht draußen ist – dank Nebel – auf zehn Meter begrenzt. Im Stockdunkeln reiten wir los. Nachdem wir eine halbe Stunde bergauf geritten sind, bleibt der Nebel hinter uns, Gott sei Dank! Entlang an rauschenden Bergflüssen, steilen Abhängen, und durch die Flüsse geht es immer weiter.

Da kommen Erinnerungen an die Maral-Jagden in Kasachstan wieder auf. Es wird schummrig und langsam immer heller. Einmalig schön ist der Anblick der kirgisischen Berge, und diese sind im Vergleich zu denen Kasachstans höher und steiler. Nach dreistündigem Ritt halten wir und glasen die Berghänge ab. Meine drei kirgisischen Begleiter haben auch bald ein Rudel Steinböcke gefunden.

Nun wird das Spektiv aufgebaut. Nach einer Weile kommt ein „Bolschoi“ und ich darf hindurchsehen. Da oben steht ein gigantischer Steinbock! Nach unserer Schätzung sicher über 125, fast an die 130 Zentimeter mit dicker Basis und starker Krümmung. Die Pferde festgebunden und die Sachen für den Aufstieg in die Rucksäcke gepackt wird mir klar, dass ich meine über 80 Kilogramm auf Schusters Rappen da hochbringen muss. Das sind gute 900 Höhenmeter.

Wie erwartet wird es eine große Schinderei für mich, die aber bei den kleinen Pausen mit einem herrlichen Ausblick über das kirgisische Bergpanorama belohnt wird. Das allein wäre die Reise schon wert gewesen. Aber ich will ja noch mehr. Werden die Steinböcke auf dem Hang ausharren? Nach fast zwei Stunden haben wir es geschafft. Allerdings ist das Rudel weitergezogen.

Der Wind dreht ständig hier oben. Es ist zum Verzweifeln. Wenn man glaubt, dass man oben ist, geht es immer noch höher. An einer Steilwand angelangt, erblicken wir das Rudel genau unter uns. Bei meinem Begleiter bricht urplötzlich Hektik aus, die sich auch auf mich überträgt. Die Entfernung ist mit 250 Metern nicht sehr groß, eigentlich ideal, aber ich muss mich weit über die Kante lehnen, um den Bock überhaupt ins Zielfernrohr zu bekommen. Das Rudel hat uns längst bemerkt und flüchtet.

Auch der starke Bock verhofft nicht mehr. So muss ich steil nach unten auf den Rücken zielen und lasse fliegen. Vorbei! Der Bock wird immer schneller. Zweimal schaffe ich noch zu schießen, doch kein Schuss trifft. Die Jäger rufen alle durcheinander.

Nach einer Weile sehen wir das Rudel aus dem Tal am Gegenberg wieder auftauchen. Gemächlich ziehen sie bergan, schon wieder über einen Kilometer weit entfernt. Der starke Bock ist auch dabei. Nur ein Jäger kann, glaube ich, nachempfinden, in welcher Verzweiflung man sich in so einem Moment befindet. Nach drei Stunden Reiten, fast vier Stunden Bergsteigen so dicht herangekommen zu sein, nicht zu treffen und dann einen solch starken Bock fortziehen zu sehen.

Es hilft nichts, für heute ist die Jagd vorbei, doch noch steht ein beschwerlicher Abstieg und ein langer Ritt ins Jagdhaus bevor. Dort angekommen macht man mir Mut und versucht mich zu trösten. Die Jäger kennen die Berge hier sehr gut und so wollen wir morgen den Bock in dem anderen Bergmassiv suchen. Die Chance, denselben Bock wieder zu finden sieht man allerdings realistisch nur bei 20 Prozent. Aber es gibt ja noch andere. Werden meine Beine morgen durchhalten? Wir gehen früh zu Bett, denn um drei Uhr ist die Nacht vorbei.

Teil 4

Montag 18. November

Pünktlich stehe ich auf. Das Frühstück ist bereits fertig. Meine Beine scheinen in Ordnung, kein Muskelkater, auch die Knie haben den Sechs-Stunden-Ritt gestern schadlos überstanden. Heute müssen wir allerdings noch zwei bis drei Kilometer weiterreiten, also vier Stunden.

Im Sattel habe ich Mühe, nicht einzuschlafen. Das wäre fatal, zumal es an steilen Schluchten und Abhängen entlang geht. An unserem gestrigen Haltepunkt sind wir vorbei. Es liegen 20 Zentimeter Schnee, und wir quälen die Pferde weiter bergan. Immer glatter wird es, und die armen Pferde ringen nach Luft. Einige Passagen müssen wir sie am Zügel führen.

Endlich sind wir am Ziel. Eine steile Bergschlucht, zu drei Seiten geschlossen. Am Fuße der Steilwand sind wir in 3.500 Meter Höhe. Heute ist es empfindlich kalt. Wir suchen uns einen Stand. Zwei Jäger wollen aufsteigen und uns, wenn sie Steinböcke sehen, diese zutreiben. Eine gute halbe Stunde brauchen sie für die äußerst steile, verschneite Geröllhalde, dann haben sie ungefähr 200 Höhenmeter bewältigt.

Wir warten unten warm eingepackt, und ich bin nicht böse darüber, heute nicht so hart ran zu müssen. Ein wenig trauere ich noch der gestrigen, vergebenen Chance nach. Da gibt Juan von oben Zeichen. Wassili neben mir deutet mit dem Fernglas. Er flüstert mir zu, dass nicht allzuweit oben ein großer Steinbock im Rudel ist, wahrscheinlich der von gestern. Es herrscht Brunft, und wir können das Kämpfen der Böcke hören. Paschli meint zu Wassili: „Wir müssen da hoch.“ Auch das noch. In meiner Montur sind schon die ersten Meter eine Qual.

Unten liegen große Geröllsteine lose aufeinander mit Schnee bedeckt. Man erkennt keine Löcher und beim Auftreten rollen viele weg. Ich habe das Gewehr auf dem Rücken und keinen Bergstock dabei. So liege ich bei jedem dritten, vierten Schritt auf der Seite. Schon nach 50 Meter bin ich fast entkräftet und dampfe wie eine Lokomotive. Meter für Meter kämpfe ich mich keuchend nach oben. Zwei Meter hoch, dann rollt man eineinhalb zurück. Eine halbe Stunde später habe ich etwa die Hälfte geschafft und bin mit meinen Kräften am Ende. Dabei kommt das steilste Stück noch.

Oft hege ich den Gedanken, aufzugeben. Aber nein, das kommt nicht in Frage. Nach einer Stunde habe ich den Aufstieg geschafft, die letzten 30 Meter auf allen Vieren. Ich ringe nach Luft. Noch nie habe ich mich auf der Jagd so quälen müssen. Viel Zeit bleibt mir nicht. Die Steinböcke sind weitergezogen, um die nächste Steilwand herum, und wir müssen hinterher. Nach 300 Metern haben wir sie erreicht. Ich suche eine günstige Schussposition. Die Entfernung ist 200 Meter. Da steht der alte Bock scheibenbreit. Ich erfasse das Ziel und es knallt.

Doch welch ein Drama, der Steinbock fällt wieder nicht. Wie eine Rakete saust er an uns vorbei. Meine Begleiter schreien „Schießen! Schießen!“. Ich bin fassungslos. Zweimal schieße ich noch vorbei. Dann sehe ich ihn auf etwa 400 Meter flüchten. Ich fasse erneut und lasse fliegen. Diesmal dumpfer Kugelschlag und der Bock zeichnet. Trotzdem geht er mit dem Rudel weiter. Auf 1 000 Meter sehen wir ihn – scheinbar gesund – wie gestern mit dem Rudel über die Bergkuppe ziehen. Aus der Traum. Ich bin tief verzweifelt und meine Begleiter eben so. Juan und sein Freund sollen die Fluchtfährte im Schnee untersuchen. Sie steigen ab, und klein wie Ameisen signalisieren sie uns, dass sie Schweiß gefunden haben und der Fährte nachgehen wollen.

Nachdem sie hinter der Bergkuppe verschwunden sind, sitzen wir wortlos da und warten. Ich könnte heulen. Wie kann man so ein Scheunentor auf 200 Meter nicht treffen? Da kommt mir die Erleuchtung. Mittendrauf habe ich gehalten und im wichtigsten Moment nicht daran gedacht, dass die Büchse auf 300 Meter Fleck eingeschossen ist, was auf 200 Meter 20 Zentimeter Hochschuss ergibt. Somit habe ich den Bock knapp überschossen. Nach so vielen Jagdjahren solch ein Anfängerfehler! Es ist schon spät geworden und deshalb steigen wir wieder zu den Pferden ab und machen uns auf den Heimweg zum Jagdhaus. Wortlos und enttäuscht reiten wir nebeneinander.

Als wir ankommen, ist es bereits dunkel. Ich traue mich nach der Blamage kaum hinein. Schnell berichten wir über das Geschehen, und man versucht mich zu trösten, was allerdings nicht gelingt. Da schlagen die Hunde an, und meine beiden Jagdbegleiter kommen freudestrahlend mit meinem Bock herein. Mir fällt ein Stein vom Herzen und empfinde eine unbeschreibliche Freude. Mit einem Weidwundschuss auf 400 Meter ist der Steinbock nur noch 200 Meter hinter die Klippe gezogen. Dort ist er ins Wundbett gegangen und verendet. Was für eine Jagd! Beim Vermessen des zwölfjährigen Bockes lesen wir eine Schlauchlänge von 125 und einen Basisumfang von 29 Zentimetern ab. Nicht schlecht! Für mich ist die Welt wieder in Ordnung, und nach vielen Wodkas geht es dann doch glücklich ins Bett.

Dienstag 19. November

Diesen Tag beginne ich mit Ausschlafen. Meine Beine danken es mir. Nach dem Frühstück schaue ich beim Präparieren der Trophäe zu, mache ein paar Fotos und genieße den Tag. Abends packe ich schließlich meine Sachen, denn morgen geht es wieder nach Bischkek. Dort muss ich noch zwei Tage im Hotel auf meinen Flug warten und dann geht es endlich wieder heimwärts. Asien zu bereisen ist nicht einfach, und man braucht eine Engelsgeduld. Aber die schönen Jagdtage und die beiden Supertrophäen waren diese Reise wert!

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