Alaska: Aufmarsch der Bären

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Jedes Jahr im Juli das gleiche grandiose Schauspiel: Auf dem Weg zu ihren Laichplätzen müssen die Rotlachse des Brooks Rivers einen hohen Wasserfall überwinden. Und dort werden sie bereits erwartet…

Von Joachim Eilts

Alaska Fluss
Die Küsten-Braunbären im Katmai-Nationalpark haben sich an Menschen gewöhnt, gestatten risikoloses Filmen und Fotografieren.
Der Katmai-Nationalpark in Alaska ist weltbekannt als Eldorado für Bärenfreunde. Alljährlich reisen unzählige Besucher aus aller Herren Länder dorthin, um von Juli bis Anfang Oktober Braunbären aus nächster Nähe filmen und fotografieren zu können.
Besonders empfehlenswert ist der Besuch der Brooks River Falls. Hier wurden spezielle Plattformen errichtet, die ein risikoloses Beobachten der Bären beim Fischen im Fluss sowie beim Fressen in Ufernähe gewährleisten. Die Küsten-Braunbären haben sich offensichtlich an die Menschen gewöhnt, denn sie interessieren sich ausschließlich für die Lachse. Es ist noch nie etwas passiert.
Die meisten Besucher lassen sich von King Salmon für einen Tag mit dem Wasserflugzeug ausfliegen. Lohnender jedoch ist ein längerer Aufenthalt im Brooks Camp, das nur wenige hundert Meter vom Wasserfall entfernt liegt. Die Hütten bieten guten Komfort. Restaurant, Post, Souveniergeschäfte … alles da!
Direkt am Wasserfall zähle ich acht Petze. Vier andere versuchen sowohl flussauf- als auch flussabwärts ihr Glück. Eine Bärin mit drei Jungen nähert sich dem lachshaltigen Ort, wahrt jedoch einen Sicherheitsabstand von etwa 200 Metern zu den alten Bären, um ihre Jungen nicht zu gefährden. Gegen Abend werden sich 19 der ausgezeichneten „Angler“ einstellen.
Unverkennbar die Sozialordnung: Alle Bären haben entsprechend ihrem Rang fest angestammte Plätze, fischen im Wasser stehend, tauchen oder verfolgen die Salme im flachen Uferbereich. Einige erkenne ich wieder, denn ich bin zum dritten Mal hier. Ich gebe ihnen Namen: „Boss“, „Taucher“, „Blödmann“, „Goliath“, „Witzbold“, „Streithammel“, „Tollpatsch“ und so weiter.
Auch der uralte, kapitale Bär, den ich an seiner unverwechselbaren, vernarbten Verletzung an der Schulter eindeutig identifiziere, ist wieder da. 400 Kilogramm bringt er ganz sicher auf die Waage. Als wäre die Zeit stehen geblieben, steht er exakt an der gleichen Stelle wie vor drei Jahren und fängt in aller Seelenruhe einen Fisch. Erst als er sich zum Fressen der proteinhaltigen Beute im Gebüsch verkriecht, wagt es ein anderer Bär, seinen Platz einzunehmen. Aber er ist nervös und fischt ständig in alle Richtungen sichernd unkonzentriert, denn es wird nicht lange dauern, bis der „Herr der Brooks“ zurückkommt. Wenn er nicht aufpasst, gibt’s was auf die Backen.
Wieder bin ich hellauf begeistert von den Petzen, kann mich nicht sattsehen! Bären üben eine Faszination auf mich aus, die ich kaum erklären kann. Einerseits habe ich einen Riesen-Respekt vor ihnen, wieß, dass sie keine Kuschelbären sind, andererseits fühle ich mich in starkem Maße von ihnen angezogen.
Am unerfahrensten, das ist unschwer zu erkennen, sind die jüngeren Bären. Ungestüm jagen sie im flachen Wasser hinter den Rotlachsen her und sind nur selten erfolgreich. „Das muss besser werden“, meint ein Landsmann neben mir. „Learning by doing“, sagt ein Amerikaner.
Einer der Bären scheint mir äußerst intelligent zu sein. Im flachen Bereich vor dem Wasserfall schaut er sich mit dem Kopf unter Wasser um und taucht bereits nach kurzer Zeit mit einem Rotlachs im Maul wieder auf.
Woher die vielen Braunbären des Katmai-Nationalparks kommen? Im April und Mai, je nach Witterung, beginnen sie nach gut sechs Monaten Winterruhe in ihren Höhlen in den Bergen mit der Frühlingswanderung, die in erster Linie der Nahrungsaufnahme dient. Dabei legen sie weite Strecken zurück, denn ihr angestammtes Terrain hat in dieser Zeit noch keinen reich gedeckten Tisch zu bieten.
Während der Winterruhe haben sie fast 30 Prozent ihres Gewichtes verloren, weshalb es sie von den Gebirgshängen in die Niederungen der Flüsse und an die Küste  treibt. Dabei folgt der Braunbär seiner Supernase, mit der er Genießbares über große Entfernungen wittern kann.
Die Petze wissen aus Erfahrung, wann die Lachse – ihre kalorienreichste Nahrungsquelle – zu den Laichplätzen ziehen: Ab Mitte Juni geht’s los! Die Lachs-Schwärme formieren sich an der Küste und setzen sich dann, ihrem Instinkt folgend, zu den Laichplätzen in Bewegung. In der Regel steigt der Königslachs zuerst auf, gefolgt von Keta, Rot- und Silberlachs. Das allerdings kann von Fluss zu Fluss variieren. Selbst im August und September findet der Bär noch Salmoniden in den Flüssen.
Dann jedoch hat er sich bereits lange „spezialisiert“, frisst kaum noch den ganzen Lachs, sondern ist zu einem „Kaviar-Schlürfer“ geworden. Kein Problem, denn in Alaska verkommt nichts. Möwen, Adler, Kolkraben sowie Fischotter stehen Spalier und übernehmen die Rollen der Resteverwerter.
Waren die Bären nach Verlassen der Winterhöhlen ihrem Naturell entsprechend zunächst noch griesgrämig und einzelgängerisch, so zwingt sie das reiche Nahrungsangebot der Flüsse jetzt dazu, mit den Artgenossen auszukommen. Droh-, Bluff-, Imponier-, Demuts- und Beschwichtigungs-Verhalten sind an der Tagesordnung.
Unerfahrene Jungbären werden immer wieder kurzzeitig vertrieben, ältere besetzen die besten Plätze. Besonders schwer haben es die Bärinnen mit Nachwuchs, denn auch beim Fischen dürfen sie die Beaufsichtigung der Jungen nicht vernachlässigen. Tun sie es, kann es vorkommen, dass ihr Nachwuchs von erwachsenen Bären getötet wird.
Nach der „Lachszeit“ fressen sich die Bären im Spätsommer und Herbst mit Unmengen von Beeren weitere Energiereserven für die Winterruhe an. In dieser Zeit kann es in Alaskas Tundra und an den Berghängen zu Massenansammlungen von Braunbären kommen. Die Artgenossen werden zwar geduldet, aber man hält gebührenden Abstand. Mit dem ersten Frost und Schneefällen im September, den Vorboten des Winters, schließt sich der Kreis. Es wird Zeit, sich zur Winterruhe zu begeben.
Der alaskanische Braunbär kann aufgerichtet eine Größe von über 3,30 Metern sowie ein Gewicht von mehr als 600 Kilogramm erreichen, wobei die männlichen Bären wesentlich größer und schwerer werden, als die weiblichen. Im Mai 1948, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde auf der Alaska Pensinsula ein Braunbär erlegt, der fast 900 Kilogramm auf die Waage brachte. Ein absoluter Gigant.
Bären erwecken den Eindruck von Trägheit und Langsamkeit. Aber das täuscht gewaltig, denn sie sind äußerst wendig, erreichen kurzfristig Geschwindigkeiten von mehr als 50 Kilometern pro Stunde und können galoppieren wie ein Pferd. Die Vorderpranken haben eine unglaubliche Kraft. Mit einem einzigen Tatzenhieb können sie einem Karibu oder Elch den Nacken brechen. Wenn sie nach Wurzeln und Knollen graben, fliegen im wahrsten Sinne des Wortes die Fetzen.
Schätzungen zufolge soll es in Alaska 35.000 bis 45.000 Braunbären geben. Hinzu kommen 4.000 bis 6.000 Polar- und mehr als 50.000 Schwarzbären.     Der fast um die Hälfte kleinere in Zentral-Alaska lebende Grizzly („Inland-Braunbär“) ist keine eigene Art, sondern lediglich eine Variante des „Küsten-Braunbären“. „Brownie“ und Grizzly werden nach dem jeweils typischen Lebensraum klassifiziert.
Die Zeit am Wasserfall verging wie im Flug, und nur unter Protest verlasse ich den Ort des Geschehens. Acht Diafilme habe ich „durchgeknallt“, fast zwei Stunden gefilmt. Mein Leben lang werde ich Freude sowohl an den Fotos als auch an den bewegten Bildern haben.
Als ich den schmalen Weg in einem Waldstück passiere, komme ich nur wenige Meter an einem schlafenden Bären vorbei. Gelangweilt hebt er den Kopf. Als er mich laut La Paloma singen hört, lässt er diesen jedoch schon Sekunden später zurückfallen und pennt weiter. Ich bin ihm wohl zu dünn.
Kann aber auch sein, dass ich nicht exakt die richtigen Töne getroffen habe.

Foto: Joachim Eilts

Bären am Wasserfall Lachs im Fluss Bär mit Lachs 1 Bär mit Lachs 2 Bär mit Lachs 3

 

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