„Knæk og bræk“ im Grenzbereich

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Sibirischer Steinbock
 

Steinbockjagd im Tian-Shan-Gebirge (Kirgistan). Den erhofften Spitzen-Trophäen stehen körperliche Höchstleistungen und Entbehrungen gegenüber. Für fünf Dänen wurde die Luft ganz dünn.

Von Hans Jörg Nagel

 

Kirgistan
Unberührt und wild: Das Tian-Shan-Gebirge durchzieht große Teile Kirgistans und grenzt an China. Foto: Hans Jörg Nagel
„Für so etwas bin ich zehn Jahre zu alt!“ Lasse Grönn ist 56. Er liegt auf seinem Bett und schnauft. „Ich bekomme einfach nicht genug Luft – bin todmüde, und mir tut alles weh“, klagt er und schließt die Augen. Gott sei Dank nur für drei, vier Stunden. Danach ist er wieder hergestellt. Aber: Morgen wird er keinen Schritt mehr zu Fuß gehen. Er will sich seinen Steinbock mit dem Pferd suchen. „Und wenn´s nicht klappt, ist es eben so“, sagt er.
 
Ein knallharter Tag liegt hinter ihm und Peter Rudbäk. Für die beiden Dänen begann der erste Jagdausflug ins Tian-Shan-Gebirge um 5 Uhr morgens. Fünf Stunden ritten sie mit ihrem Jagdführer und zwei Gehilfen durch dick und dünn. Hügel wurden erklommen und Bäche durchtrabt. Es folgte der Aufstieg. Etwa 300 Meter ging es steil nach oben. In über 4 000 Metern Seehöhe und durch kniehohen Schnee wurde jeder Schritt zur Qual. Dann kamen die Ibexe. Unerwartet und schnell. Lasse war am Ende. Verzweifelt versuchte er seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen und den Herzschlag zu bändigen. Vergebens. Rudbäk hatte noch ausreichend Luft. Ruckzuck hatte er sich hinter einem Felsen eingerichtet und geschossen. Zwei Sibirische Steinböcke kamen zur Strecke. Schlauchlängen 70 und 80 cm. Rudbäk hatte als Mindestmaß 1,10 Meter vorgegeben…
 

Über Stock und Stein zum Basiscamp

 

Kirgistan
Gepirscht wird zu Pferd oder Fuß. Durch Flussbetten geht’s in die Jagdgründe. Foto: Hans Jörg Nagel
2 Tage zuvor, Anfang Oktober. Über Istanbul fliege ich mit Türkish-Airlines nach Bishkek, der Hauptstadt Kirgistans. Keine Verspätung, keine Visum-Probleme. Alles geht glatt. Sieben Stunden Flugzeit liegen hinter mir. Und das für gerade mal 600 Euro – ein Schnäppchen. In der Wartehalle des Flughafens treffe ich die Dänengruppe. Fünf Jäger, teils in Tarnkleidung, begrüßen mich. Wir stellen uns einander vor und gehen in die Wartehalle. Dort erwartet uns bereits Madchid. Er ist der Organisator vor Ort und wird uns die zehn Tage zur Seite stehen.
 
Nach einem kurzen Stopp im Jagdbüro und wenigen Formalitäten fahren wir Richtung der Dolmetscher wissen, was auf sie zukommt – wir Jäger nicht. Nur auf den ersten 100 Kilometern ähnelt der Untergrund einer Straße. Dann reißt der Teerbelag ab und geht in Schotter über. Riesige Schlaglöcher, Gräben und Schutt verlangen den Fahrern und uns alles ab.
 
Beim ersten Zwischenstopp in einem einsamen Tal besorge ich mir einen Schraubendreher und montiere Haltegriff und Kleiderhaken im Fond des Nissan-Geländewagens ab. Hans-Henrik und ich sind gefühlte 1 000 Mal mit unseren Köpfen daran geprallt. Uns beiden brummen gewaltig die Schädel. Zwischenstopp in Naryn. Not und Elend in der alten Militärstadt. Bettelarme Menschen. Alkoholismus und Prostitution. Nichts wie weiter.
 

 

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Noch 200 Kilometer bis zum ersten Basislager. Noch einmal 6 Stunden Fahrzeit. Meist bergauf. Die Matschwege werden weiß. Knapp 20 Zentimeter Schnee verdecken die Fahrspuren. Nur noch einmal begegnen wir einem chinesischen Lastwagen, sonst sind wir alleine auf der Piste. Fast. Bleiben wir in den Schlammlöchern stecken, tauchen von irgendwoher Hirten zu Pferd auf und ziehen uns heraus. Eine Flasche Wodka wechselt den Besitzer. Auf halber Strecke dann ein weiterer Zwangsstopp. Stacheldrahtbarrieren auf der Straße. Wir halten an. Aus einer kleinen Baracke kommen drei Soldaten der kirgisischen Grenzmiliz. Nach China sind es noch 130 Kilometer. Ihr Anführer lässt sich unsere Papiere zeigen, während ihn zwei höchstens 14-jährige Rekruten sichern. Nachdenkliches Kopfschütteln beim „General“. Madchid weiß, was das bedeutet und nimmt ihn ebenfalls kopfschüttelnd zur Seite. Er kennt das Spiel. Kurz darauf fahren wir weiter. Wieder hat eine Flasche Wodka den Besitzer gewechselt.
 
 
Die endlose Fahrt hat für Peter, Lasse und mich ein vorübergehendes Ende. Gegen 20 Uhr treffen wir im ersten Basiscamp ein. 2 800 Meter über Seehöhe. Von hier aus werden Sören, Hans-Henrik und Robert in den nächsten sechs Tagen jagen.
 
 
Für uns drei geht die Fahrt weiter. In einer Stunde durchfahren wir ein gutes Dutzend Bäche, und die Stollenreifen des Geländewagens graben sich neue Wege. Dann haben auch wir unser Camp erreicht. Es ist längst dunkel. Nach kurzer Begrüßung der „kleinen Mannschaft“, dem Einrichten und Abendessen fallen wir wie erschlagen in die Betten. Das erste Abenteuer ist bestanden.
 

Los geht´s: Höhen und Tiefen

 

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Abglasen und Abwarten: Die einheimischen Jagdführer suchen stundenland im Hang nach Steinböcken. Foto: Hans Jörg Nagel
Der erste Tag im Camp dient der Aklimatisierung. Der Körper soll sich an die 3 200 Höhenmeter gewöhnen. Es ist ein herrlicher Tag. Stahlblauer Himmel, schneebedeckte Hügel, Sonnenschein und warme 20 Grad. Probeschießen: Peter und Lasse sind mit ihren Treffern zufrieden. Auf 150 Meter hangaufwärts liegen sie etwa 10 Zentimeter hoch. Das passt.
 
Ich bin an der Reihe. Und es kommt genau das, was ich befürchtet habe. Die zugesicherte „moderne Jagdwaffe nach westlichem Standard“ entpuppt sich als russischer Militärkarabiner von 1944. Optik Fehlanzeige. Ich schimpfe, und sofort springt einer der kirgisischen Jagdführer los, um mir eine andere Waffe zu besorgen. 20 Minuten später ist er zurück: Jetzt mit einem alten Mosin Nagant-Repetierer. Das Zielfernrohr ist seitlich angebracht. Ich probiere es. Der Schuss kracht und mir das Zielfernrohr aufs Auge. Schlechter Treffer. Ich bin stinksauer. Mehrfach hatte ich mir im Vorfeld der Reise telefonisch die Qualität der Leihwaffe bestätigen lassen – nun dies. Das passiert mir nie wieder. Die Dänen bieten mir an, nach erfolgreicher Jagd ihre Waffen benutzen zu können.
 

 

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Unser Basiscamp steht weit ab jeglicher Zivilisation. Ein einfacher Spanplattenbau ohne Strom und fließend Wasser. Foto: Hans Jörg Nagel
Wir schlendern etwas um das Camp. Kilometerweit können wir in die schneebedeckten Berge schauen. Etwa 300 Meter nördlich von uns lebt ein Hirte. Rinderherden stehen im Hang, vereinzelt auch Pferde. Kirgisische Jagdhunde streunen herum.
 
Das Camp selbst ist aus Fertigelementen zusammengeschustert. Für die Dänen und mich steht ein Schlafraum mit ordentlichen Betten und ein Speiseraum zur Verfügung. Wasser wird aus Schnee gewonnen, Wärme spendet ein Koch- und Heizofen. Toilette und Waschtisch haben einen Tank von rund zwei Litern. Das kann zu wenig sein…
 
Am Nachmittag kommen die Jagdführer und ihre Gehilfen. Für Lasse, Peter und mich ist jeweils ein Pferd gesattelt. Ein erster Ausritt. 4 Stunden traben wir durchs Tal. Bergeinschnitte umschleichen wir, um die dahinterliegenden Hänge abzuglasen. Außer Fährten, auch die eines Bären, sehen wir nichts. Rückkehr: Anscheinend haben wir uns als reittauglich erwiesen, denn unsere einheimischen Führer sind mit uns zufrieden und lachen viel. Zu Abend essen wir etwas Wurst und Brot und die obligatorische Krautsuppe. Dazu gibt es Tee mit Honig, Bier und Wodka. Gegen 20 Uhr legen wir uns in die Betten.
 

„Drückjagd“ im Hochgebirge

 

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Häufig im Anblick, meist weiblich und immer weit: Ein Ibex-Rudel flüchtet hangaufwärts. Foto: Hans Jörg Nagel
In der Nacht hat es mich erwischt. Ein Magen-Darm-Infekt. In diesem Umfeld mehr als unangenehm. Ich muss im Bett bleiben. Lasse und Peter wurden von ihren Jagdführern um 5 Uhr abgeholt. In stockdunkler Nacht ritten die Jäger mehr als drei Stunden in die Berge. Meist hangaufwärts. Schon im ersten Sonnenlicht kamen Ibexe in Anblick. Allerdings sehr weit und mit schwachen Trophäen. Das Ziel, ein Gipfel mit gewaltigem Ausblick, konnte nur zu Fuß erreicht werden. „Es ging durch kniehohen Schnee. Erst schaffte ich noch 30 Meter am Stück, dann musste ich alle 5 Meter pausieren. Verdammt dünne Luft. Es war eine Qual“, berichtet Lasse. Doch irgendwann erreichten die Nordländer den Grat. Etwa 300 Meter voneinander entfernt lagen sie bäuchlings im Schnee, die Waffen auf den Rucksäcken eingerichtet.
 
Kaum angekommen, umschlug ein Helfer den direkt gegenüberliegenden Hang, in der Hoffnung, dort auf Steinwild zu treffen. Und tatsächlich: Ihm gelang es, in den Rücken eines Ibexrudels zu kommen und diese Richtung „dänische Front“ zu drücken. Peter Rudbäk: „Etwa 50 Ibexe kamen wie aus dem Nichts auf uns zu. Alles musste ganz schnell gehen. Auf etwa 150 Meter hatte ich einen sehr starken im Glas, schoss, fehlte, traf aber einen anderen. Mit einem weiteren Schuss erlegte ich einen zweiten.“ Für Lasse waren die Ibexe zu weit, so dass er nicht zu Schuss kam.
 
Trotz des „Glücksschusses“ war die Freude über die zwei erlegten Steinböcke groß. Noch vor Ort wurde das Wild aufgebrochen und Trophäen wie Wildbret an den Sätteln befestigt. Hinter vorgehaltener Hand berichtet mir der Erleger: „Die Kirgisen haben sich die Blasen der Böcke herausgeschnitten und den Inhalt getrunken. Ex und hopp. Sie sind davon überzeugt, dass der Urin ihre Manneskraft steigert!“ So weit so gut. Einzig die Hornlänge entspricht nicht den Erwartungen des Jägers. Er will es nochmal versuchen.
 
Vor dem Heimritt musste Lasse Grönn eine Stunde im Berg ruhen. Er war körperlich am Ende. Sauerstoffmangel und dichter Schnee hatten ihn fertiggemacht.
 
Mit einem Salutschuss kündigten sich die erfolgreichen Jäger im Lager an. Schnell köpfte Jenny, unsere Köchin, eine Flasche Krimsekt, und gemeinsam wurden die ersten Jagderfolge gefeiert. In dänisch wollte ich Peter Weidmannsheil sagen. Lasse informierte mich: „Bei uns sagt man Knæk og bræk, was übersetzt Hals- und Beinbruch heißt.“ Also: Knæk og bræk, Peter!
 

Marco Polo-Schafe und Wölfe

 

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Lasse Grönn mit „Führer“ und „Steinböckchen“. Foto: Hans Jörg Nagel
Der nächste Tag. Noch immer steckt der Virus in mir. Auch an diesem Tag jage ich nicht. Peter und Lasse wurden wieder um 5 Uhr abgeholt. Der 56-jährige Lasse wollte es doch noch einmal wissen. Diesmal ging es in den westlichen Teil des Reviers.
 
Anblick hatten beide, allerdings waren nur vereinzelte starke Steinböcke darunter. Erschwerend war, dass das Wild meist auf mehr als 1,5 Kilometer in Anblick kam. Und selbst aus dieser Entfernung schienen die Ibexe die Jäger bereits „in den Lichtern“ zu haben. Uahla, einer der kirgisischen Jagdführer, meinte, das Steinwild sei sehr vorsichtig, da die Wolfspopulation stark zugenommen habe. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass die Gegend zu stark bejagt ist. Unverrichteter Dinge kehrten die Jäger zurück ins Camp. Und diesmal war sich Lasse ganz sicher: „Ich mache hier keinen Schritt mehr!“
 
Auch am folgenden Tag ging es um 5 Uhr los. Die einheimischen Jäger hatten uns abgeholt. Lasse ritt mit seinen Männern in Richtung Süden. Er sollte geschont werden, nicht mehr als nötig zu Fuß gehen müssen. Für Peter und mich war die harte Tour vorgesehen.
 
Insgesamt verbrachten wir an diesem Donnerstag 10 Stunden im Sattel. Vorrangig ritten wir in Bächen und Flüssen. An vielversprechenden Stellen stiegen wir ab, erkletterten Felsvorsprünge und leuchteten die Gegenhänge ab. Mehrfach sahen wir Steinbockrudel, aber nur kurz und sehr weit. Auch Marco Polo-Schafe bekamen wir in Anblick.
 
Nach einem Essen und kurzer Mittagsruhe umritten wir ein Bergmassiv und sahen erstmals Wölfe. Am Grat waren es drei, kurz danach auf halber Höhe ein weiterer. Gerne hätten wir Beute gemacht, doch mehr als ein Kilometer Distanz zu den Grauhunden ließ an einen Schuss nicht einmal denken.
 
Als letzte Chance des Tages erklommen wir hoch zu Roß einen Berg. Oben angekommen, waren Pferde und Reiter kurz vorm Kollabieren. Obwohl unsere Jagdführer auch noch die flankierenden Höhen umschlugen, blieben wir auch hier ohne Anblick.
 
Ein eiskalter Schneesturm ließ uns abbrechen, und wir begaben uns auf den dreistündigen Heimritt. Dort erwartete uns Lasse. Stolz präsentierte er seinen Bock, den er „ohne große Anstrengung“ auf rund 150 Meter streckte. Hornlänge: untermaßig.
 

 

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