Verräterische Losung

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Elche
 

JWW 5/ 2011

Schwedens Weidmänner schwärmen jedes Frühjahr zur Elchinventur aus. Die staatliche Wildverwaltung setzt großes Vertrauen in die Jäger, die dadurch ein besseres Verständnis für den Wildbestand und die Hoheit über die Abschusszahlen erhalten.

Von Angela Stutz

 

Elche
Elche im Verkehr: keine Seltenheit in Schweden. Foto: A. Stutz
Es ist Mitte Mai. Fröstelnd bei drei Grad plus stehe ich mitten in der Wildnis im äußersten Norden von Värmland. Der Himmel ist grau und wolkenverhangen, über den Mooren und Seen steht nach tagelangem Regen der Nebel. Nur das Krächzen eines Kolkraben durchbricht die Stille. Die Wälder hier im schwedisch-norwegischen Grenzgebiet gelten als die südlichste „Wildmark“ Schwedens und zugleich als eine der Regionen mit der höchsten Elchdichte. Nachdem in diesem Jagdrevier im vergangenen Oktober knapp 90 Elche zur Strecke kamen, gehen die Jäger nun auf eine „Jagd der etwas anderen Art“: Sie suchen Elchlosung!
 
Am Morgen fand eine kurze Besprechung mit dem Jagdleiter statt. Karten und Inventurbögen wurden ausgegeben. Seit 2007 wird in diesem Jagdgebiet die Elchinventur nach dem Losungszähl-Verfahren von Jägern erledigt – immer im Frühjahr, direkt nach der Schneeschmelze, um so den Winterbestand an Elchwild zu erfassen. Unser Team besteht aus 30 Jägern aus den 6 Sektionen der Jagdgenossenschaft Aspberget. Jeder hat durch den schwedischen Jagdverband eine Einführung in dieser Methode und eine feste Probeflächen zugeteilt bekommen. Es gilt, die Untersuchungspunkte der Vorjahre zu finden, die auf Rastern jeweils 100 Meter auseinander liegen, um dort frische Losung zu zählen. Liegt ein Punkt im Wasser oder tiefen Sumpf, wird dies vermerkt und nicht gezählt. Durch eine einheitliche Zählweise und die gleichbleibende Zuweisung der Flächen an geschulte Jäger ergibt sich eine relativ zuverlässige Bestandsaufnahme.
 
 
 

Über Stock und Stein

 

Elche
Heureka, Losung ist da! Große Freude beim Anblick der Kotbeeren! Foto: A. Stutz
„Wir zählen nicht nur Elchlosung! Es geht auch um die der Rehe. Rehlosung wird im Gelände leicht übersehen, soll aber auch gerechnet werden“, erinnert Karl-Gunnar, von allen kurz „KG“ genannt, Jagdleiter unserer Sektion Storberget. Er organisiert im Sinne des schwedischen Jagdverbandes seinen Trupp freiwilliger Jäger bei der Bestandsaufnahme. Ausgerüstet mit Karte und Kompass oder GPS geht es durch die Wälder Nordvärmlands. Die knapp 19.000 Hektar der Jagdgenossenschaft Aspberget werden an einem Wochenende abgearbeitet.
 
Es ist nicht leicht, in diesem Gelände voranzukommen – direkte Wege zu gehen, kaum möglich. Damit ich nicht in den Wäldern verloren gehe, habe ich Sven Aane dabei. Der Norweger ist hier zu Hause. Nicht weit hinter der Grenze im norwegischen Bezirk Hedmark lebend, jagt er seit über 25 Jahren im hiesigen Jaktlag, wie die Jagdgesellschaften der Sektionen genannt werden. Während ich dankbar für Kompass und GPS bin, orientiert er sich anhand von Felsen, Bäumen und Bachläufen, die für mich alle ziemlich gleich aussehen.
 
Sven und ich stehen an der Kante eines ausgedehnten Moores und kommen nicht weiter. „Im Oktober, während der Jagd, kann man hier über das Moor gehen. Dann ist der Boden schon gefroren. Aber jetzt suchen wir uns lieber einen Weg außen herum.“ Sven Aane marschiert voran – ein Umweg. Wir werden für die Strecke von 4 Kilometern fast 5 Stunden brauchen. Der Weg über Felsen, Bäche, Sumpflöcher und Äste erfordert gute Kondition und sicheren Tritt.
 

 

Elche
Je mehr Losung, desto mehr Elche, desto höher die Zahl freigegebener Hirsche. Foto: A. Stutz
Sven hält ein Seil mit der Länge von 5,64 Metern, und ich kreise an dessen anderen Ende um ihn herum. In dem so umschriebenen Bereich kann die Suche nach Elchlosung beginnen. Insgesamt werden damit 100 Quadratmeter erfasst. Der Probepunkt liegt im für diese Region typischen nordischen Nadelwald mit Fichten und Kiefern, durchmischt von Birken und Aspen. Der steinige Boden ist mit Moos und Flechten bewachsen, dazwischen – wohin man schaut – Beerensträucher. Ich entdecke mehrere Kotbeeren, verstreut zwischen dürren Heidelbeeren und teilweise von Blättern verdeckt. „Wir zählen nur Haufen mit mehr als 20 frischen Kotbeeren. Und ‚frisch’ bedeutet, dass die Losung auf der Laubschicht des Herbstes liegt, also während des Winters angefallen ist, denn der Winterbestand an Elchen soll ermittelt werden“, erinnert mich Sven. Im kleineren Radius von 1,78 Metern suchen wir noch nach Rehlosung. Hier gilt es, mindestens zehn Beeren zu zählen. Aber das Resultat ist wieder null. „Rehe halten sich hier nur nahe der Ortschaften und Häuser auf. Dort wo es sicher ist“, erklärt mein Begleiter. „Da wir hier Bär, Wolf, Vielfraß und Luchs haben, ist der Rehbestand sehr gering, er liegt bei etwa einem Reh auf 1.000 Hektar.“
 

 

Elche
Wechsel voller Losung: Liegt ein solcher im Untersuchungssektor, nimmt das Zählen kein Ende. Foto: Thore Ryen
Wir marschieren weiter. Aber auch bei den nächsten Punkten finden sich weder Elch- noch Rehlosung. Gelegentlich kreuzen wir eine Elchfährte und stoßen schließlich auf die Plätzstelle eines Hirsches. Plötzlich ändert sich der Wald. Wir kommen auf eine große Fläche, die vor gut zehn Jahren abgeholzt wurde. Die jetzt etwa drei Meter hohe Dickung weist fast an allen der zahlreichen Weiden, Birken und Aspen einen enormen Verbiss nicht nur der Leittriebe auf. „Ein Paradies für Elche“, meint Sven. „Es ist wissenschaftlich untersucht, dass der Elch in absteigender Reihenfolge am liebsten Ebereschen, Weiden, Aspen, Birken und Kiefern äst, Fichten sind selten betroffen. In Dickungen dieser Höhe hat er die Äsung vor dem Windfang und gleichzeitig Deckung.“ Hier wird klar, warum der Elch in Amerika mit dem indianischen Ausdruck „moose“, also „Astfresser“, bezeichnet wird. An den Untersuchungspunkten in diesem Areal entdecken wir einige frische Losungshaufen, die wir in unserer Liste vermerken.
Die nächste Entdeckung lässt unseren Adrenalinspiegel steigen: Bärenlosung! In diesem Revier ist immer eine Begegnung mit Meister Petz möglich. Manchmal findet man auch andere Hinweise, wie durchwühlte Ameisenhaufen oder Kratzspuren an Bäumen. Vor wenigen Wochen entdeckten mehrere Anwohner ganz frische Trittsiegel. Unweit überwinterte ein Bär vor einigen Jahren sogar unter einer alten Scheune.
 
Die geschätzte Höhe der Bärenpopulation ist ein Beispiel dafür, dass Jäger den regionalen Wildbestand oft besser im Blick haben als Behörden. Landbevölkerung und Jäger gingen in Schweden längst von einem höheren Bärenbestand aus. Neueste wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen das. Rund 2.800 Bären durchstreifen zur Zeit Schwedens Wälder. Seit einigen Jahren sind in Värmland jährlich 2 Bären zum Abschuss freigegeben. Bemerkenswert ist, dass der Raubwildabschuss in 6 Bundesländern Schwedens durch die Landesbehörde, die Länsstyrelse festgesetzt wird und nicht mehr durch die zentrale Naturschutzbehörde. Die Entscheidungen liegen somit näher an den lokalen Jagdverwaltungen aus Jägern und Grundbesitzern.
 
 
 

Schwedische Hüttenromantik

 

Elche
Gemeinsam stark: Bei der Elchjagd packt jeder mit an. Anders ist das schwere Wild auch nicht zu bergen. Foto: A. Stutz
Eine verdiente Pause auf halbem Wege unserer Erhebung kündigt sich an, als wir die Lichtung erreichen, wo Lars und Judith in einer malerischen Holzhütte wohnen. Wie in Schweden üblich, hängen stattliche Elchschaufeln an den Schuppen und Scheunen, Zeugnisse eines langen Jägerlebens.
 
Sein ganzes Leben lang, immerhin schon 87 Jahre, wohnt Lars hier in den Wäldern – ohne fließendes Wasser, aber seit einigen Jahren mit elektrischem Strom. Noppi heißt das Anwesen, ein Hinweis auf die finnischen Einwanderer im 16. Jahrhundert, die sich in den ausgedehnten Wäldern Nordvärmlands ansiedelten und diesen noch heute ihren Namen geben: Norra Finnskoga, die „Nördlichen Finnenwälder“. Judith hat uns schon entdeckt und winkt uns herein. Der duftende schwedische Kaffee hat noch weitere Inventur-Jäger in die gemütliche Stube gelockt, und alle diskutieren mit Lars über alte und neue Zeiten.
 
Die Jagd begleitete Lars, wie die meisten der Einheimischen, von Kindesbeinen an. Früher wie heute dient die Elchjagd hier vor allem der Fleischbeschaffung. Über Jahrzehnte war er Jagdleiter in diesem Revier und verbrachte auch sein gesamtes Arbeitsleben im Wald. Früher gaben die „Finnenwälder“ vielen Menschen Arbeit und Brot. Erst mit dem Einzug der großen Erntemaschinen in die Forstwirtschaft wurden die Arbeitsplätze auf ein Minimum reduziert. Da die karge Landschaft kaum mehr als Waldbau ermöglicht, hat sich im Zuge der Technisierung eine regelrechte Entvölkerung vollzogen. Heute sind Lars und Judith zwei von gerade einmal 377 Einwohnern im 655 Quadratkilometer großen Gebiet der Norra Finnskoga! Schulen und Läden gibt es in den Dörfern nicht mehr. Ehemalige Höfe sind nun Ferienhäuser oder verfallen. Frühere Viehweiden wurden vom Wald zurückerobert.
 

 

Elche
Altersschwäche oder doch Wolf und Bär? In jedem Fall eine besondere Trophäe, zu der wohl kaum ein Jäger nein gesagt hätte! Foto: Arne Övergard
Die Folgen der veränderten Forstwirtschaft haben alle erlebt. „Die großen Kahlflächen, die mit der neuen Forsttechnik ab den 1960er Jahren entstanden, bieten schon nach 2, 3 Jahren gute Äsung für Elche: bestimmte Gräser, junge Aspen und Birken. Nach 10 bis 15 Jahren ist der Bestand etwa 3 bis 5 Meter hoch und bietet beste Einstände für die großen Rehverwandten“, erklärt KG. Der bevorzugte Anbau von Kiefern bot zudem sehr gute Winteräsung. Da auch die Zahl der großen Raubtiere noch gering war, hatten die Elche hervorragende Lebensbedingungen in ganz Schweden. Seinen Höhepunkt hatte der Elchbestand in Värmland 1982. Damals wurden fast 17.000 Elche erlegt. Inzwischen liegt die jährliche Quote zwischen 6.500 und 7.000. „Im vergangenen Oktober erlegten wir in der Jagdgenossenschaft Aspberget auf rund 19.000 Hektar etwa 90 Elche, noch vor 5 Jahren kamen 130 zur Strecke“, berichtet KG.
 
Ich könnte den Jägern noch stundenlang zuhören, aber der zweite Teil unserer Inventur wartet! Wir setzen unseren Weg fort. Nun geht es steil den unwegsamen Hang hinauf, und Erinnerungen an kräftezehrende Jagdtage werden bei Sven wach: „Wer sich bei der Elchjagd nicht mit einem Stand an einem der Wege im Revier zufriedengeben will, muss weite Anstiege über Geröll und Sümpfe zurücklegen.“ Als Lohn winkt dann die herrlich stille Landschaft am Stand, oft am Rande eines verwunschen anmutenden Moores, bis das Krachen der Äste den durchbrechenden Schaufler ankündigt oder der plötzliche Anblick von Alttier und Kalb überrascht. Liegt die Beute, heißt es die bis zu 500 Kilogramm schweren Elche aus Wald und Moor zu bergen. Trotz moderner Technik ist man dabei immer noch auf die Gemeinschaft und Hilfe vieler angewiesen.
 
Wir erreichen nach langem Klettern über Felsen, Springen über Bäche und etlichen Fehltritten in sumpfige Löcher den letzten Untersuchungspunkt. Plötzlich neben mir donnernder Flügelschlag – ein schwarzer Schatten macht aus dem Beerenkraut hoch. Ein Auerhahn! Ich sehe, wie der majestätische Vogel zu Baume steigt und uns beobachtet. „Auer- und Birkwild gibt es hier reichlich“, meint mein Begleiter, „und heuer wird bestimmt ein besonders gutes Jahr für die Bodenbrüter. Es ist ein richtiges Mäusejahr. So werden viele der Gelege, die sonst von Fuchs und Co. geplündert werden, hochkommen.“
 
 
 

Zwischenbilanz

 

Gegen Abend ziehen wir Bilanz. In den 40 Untersuchungskreisen unseres Quadrates haben wir 11 frische Haufen Elchlosung und keine Rehlosung gefunden. Am darauffolgenden Tag bin ich mit Jagdleiter KG verabredet. Während er Kaffee kocht, erklärt er: „Alle Daten, die wir dokumentiert haben, gehen an den schwedischen Jagdverband. Der Winterbestand lässt sich aus der Losungszählung mittels einer Formel errechnen. In dieser wird berücksichtigt, dass ein Elch durchschnittlich 14 Losungshaufen per Wintertag und Hektar ausscheidet. Aus den 11 von euch gefundenen Losungshaufen würden sich so 7 bis 8 Elche auf 1.000 Hektar errechnen.“
 
Aber genügen diese Ergebnisse schon, um die Bejagung der Elche planen zu können? „Nein“, setzt KG fort, „die Losungszählung ist eine Methode zur Bestimmung der Bestandsdichte großer Wildarten. In Schweden wird sie ergänzt durch die Elchbeobachtung, die ebenfalls von den Jägern während der herbstlichen Gemeinschaftsjagd ausgeführt wird.“ Dadurch erhält man vor allem einen Überblick über die Geschlechterverteilung im Bestand, aber auch über die Verfassung einzelner Individuen. Die se Ergebnisse sind dann Grundlage für die Abschussplanung, zu der auch noch Aufnahmen des Äsungsangebotes und des Verbisses herangezogen werden können.
 

 

Elche
Schweden: gemeinsam zählen, gemeinsam jagen. Foto: Göran Wallin
Inzwischen beteiligen sich laut schwedischem Jagdverband immer mehr Jagdgenossenschaften an den Elch inventuren. Wie Lennart Johannesson vom Verband in Värmland mitteilt, sieht man einen großen Vorteil darin, dass der normale Jäger an der Inventur beteiligt wird: So bekommen Jäger vor Ort einen Überblick über den Elchbestand und haben dadurch mehr Verständnis für die darauffolgenden Abschusszuteilungen. Dass die Methode gleichzeitig kostengünstig ist und sichere Ergebnisse liefert, ist ein weiterer Grund für die Einführung der Elchlosungs-Zählung, die mit einer gesetzlichen Änderung 2012 in ganz Schweden etabliert werden soll.
 
Im gleichen Maße, wie die Bevölkerungszahl durch Wegzug in die Städte abnimmt, scheint die Natur in Form der großen Prädatoren in die Wälder Värmlands zurückzukehren. Während Bären vor allem in den Bestand der Elchkälber eingreifen, wagen sich Wölfe auch an erwachsene Stücke heran. Mit einer Taktik kommen auch einzelne Wölfe zum Erfolg: Sie verletzen den Elch und warten dann ab, bis das Stück durch Infektion der Wundegeschwächt ist und zur leichten Beute wird. Bei der letztjährigen Elchjagd wurden drei stärkere Hirsche gestreckt, die große Bisswunden an Keulen und Flanken aufwiesen. Im Nachbarrevier traf es einen 22-Ender.
 
Als wir uns schließlich mit einem schwedischen „Hej då!“ verabschieden, gehen für mich zwei Tage voll spannender Eindrücke von faszinierender Wildmark und interessanten Jagdaspekten zu Ende. Wenige Tage später sind die Ergebnisse der Losungsinventur im Internet zu finden: Die Jagdgenossenschaft Aspberget hat einen Elchbestand von durchschnittlich 12 Stück auf 1.000 Hektar ermittelt. Das sind für das gesamte Revier etwa 228 Elche und damit etwas mehr als bei der vorherigen Zählung. Knapp die Hälfte wird wohl im Herbst zum Abschuss freigegeben. Die Jäger dürfen sich schon freuen!
 

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