Masuren – die vier Jahreszeiten

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Schon seit Jahrzehnten jage ich regelmäßig in den wildreichen Revieren Masurens: auf Sauen, auf Rehbock im Frühjahr und zur Blattzeit, und auf den Brunfthirsch. Und immer wieder bin ich von der einsamen Natur gefangen, wenn nicht gerade Pilzsaison ist…

Von Gert G. von Harling
Es war beinahe taghell, der Vollmond schien, und es herrschte eisiger Frost, als ich meinen ersten nächtlichen Pirschgang in Masuren unternahm. Bei fast eineinhalb Meter hoher Schneedecke mit einer harten Eiskruste darauf, machte ich mir wenig Hoffnung auf jagdlichen Erfolg. Ich versuchte, ein Rudel älterer Hirsche anzugehen, aber vergeblich. Obwohl ich nur auf dicken Wollsocken pirschte, war ich noch zu laut. Die Hirsche vernahmen mich lange, bevor ich mich ihnen auf Schussdistanz nähern konnte und flüchteten.

 

Masuren im Winter

Daher verlegte ich mich auf den Ansitz. Die Quecksilber-Säule zeigte minus 32 Grad Celsius an, als ich den knarrenden Hochsitz am windgeschützten Kiefern-Altholz bestieg. Der volle Mond, der vom eisigen, klaren Himmel strahlte, hatte die vor mir liegende riesige Schneefläche, einen zugefrorenen See, mit seinem geisterhaften Glanz in eine funkelnde Eislandschaft verwandelt. Ungefähr hundert Gänge von meinem Sitz entfernt begann ein breiter Schilfgürtel und schien in einer unermesslichen Entfernung zu enden.

Die grimmige Kälte fraß sich unerbittlich durch meinen dicken Pelz. An den Zehen beginnend, schlich sie erbarmungslos am Körper empor, wurde immer spürbarer, und die Stunden verrannen nur zähflüssig. Plötzlich macht sich Wild bemerkbar. Starkes Brechen, lautes Quietschen und andere Geräusche verraten, dass es sich um eine anwechselnde Rotte Sauen handelt.

Bald entdecke ich auch auf über dreihundert Gänge im bläulich schimmernden Mondlicht kleine schwarze Gestalten schemenhaft aus dem tief verschneiten Rohr kommen, aber sie sind sofort wieder verschwunden.

Keine 150 Gänge entfernt trotten sie erneut wie an einer Perlenschnur aufgezogen über die fast endlose freie Fläche auf den schützenden Hochwald zu: Sauen! Zehn, 20, 24 zähle ich. Eile ist geboten, das erste Stück ist schon im dunklen Kiefernwald verschwunden, bevor ich mit meinen eisigen, klammen „Vorderläufen“ den Repetierer in Anschlag gebracht habe.

Durch das Zielfernrohr ist das Ansprechen nicht schwierig: Zwei der Kujels sind auffallend schwach. Leider erreicht meine Kugel nur noch den einen der beiden, bevor die ganze Gesellschaft im Schutz des alten Holzes verschwunden ist.

Vor Aufregung hatte ich die eisige Kälte ganz vergessen, aber nun spüre ich sie wieder. Ich will trotzdem weiter ausharren, noch einmal die letzten Minuten in Gedanken vorüberziehen lassen. So lehne ich mich wieder auf meinem vereisten Sitz zurück, betrachte durch das achtfache Glas meine Beute, die nur als kleiner schwarzer Punkt auszumachen ist, und freue mich an der herben Großartigkeit dieser Schneelandschaft und an der zauberhaften Mondnacht.

Das ohrenbetäubende Donnern und Krachen, das mich zu Beginn meines Ansitzes noch zusammenfahren ließ, erschreckt mich nun nicht mehr so sehr: Es ist das dicke Eis der tiefgefrorenen Seen, das manchmal mit mächtiger Gewalt auseinander bricht. Am Morgen sieht man die riesigen Sprünge, die sich fast wie Gletscherspalten quer über die zugefrorene Fläche ziehen.

Aus verschiedenen Richtungen ertönendes Heulen weckt mich schließlich aus meinen Träumereien und mahnt zum Aufbruch. Der zwar schaurige, für einen Jäger aber vielversprechende „Gesang“ mehrerer Wölfe ist noch weit entfernt. Als ich aber meine Beute aufgebrochen habe und sie an einem Strick mühselig durch den hohen Schnee hinter mir herziehe, wird mir doch etwas unheimlich zumute. Der Treffpunkt liegt noch über einen Kilometer entfernt. Das Heulen kommt näher, und ich ertappe mich wieder und wieder dabei, nach einem geeigneten Baum Ausschau zu halten, den ich im Notfall erklimmen könnte.

Nach halbstündigem anstrengenden Marsch erreiche ich den Treffpunkt, und mehrere kräftige Schlucke aus der Wodkaflasche lassen die Lebensgeister wieder zurückkehren.

Am folgenden Morgen beginnt es erneut zu schneien, und das macht für die nächsten Tage alle weiteren Jagdpläne zunichte. Daher nehme ich frühzeitig Abschied von den unendlichen Weiten und der wohltuenden Einsamkeit des Ostens.

Rothirsch-Bestand
Auf 95.000 Stück schätzt man den Rothirsch-Bestand in Polen. Die zu erwartende Trophäenstärke bei reifen Hirschen liegt zwischen sechs und acht Kilogramm.

 


Fotos: Martin Rügner, Klaus Schneider, Toma Ivanovic, Gerd Wüstefeld, Michael Migos

Masuren im Frühling

Obwohl die Eisheiligen und die „kalte Sophie“ hinter uns liegen, ist es eisig kalt. Trotzdem begann das Wachstum in der Natur zwei Wochen früher als im vergangenen Jahr: Der Raps ist jetzt schon wieder verblüht, die Lupinen haben ihre blauen Blüten bereits voll entfaltet.Wohl deshalb ist es in dieser Zeit besonders schwierig, einen Rehbock zu Gesicht zu bekommen: So, wie sich die Natur vierzehn Tage früher als sonst entwickelt hat, so sind auch die Böcke zwei Wochen früher satt und feist geworden und ruhen träge in ihren Einständen. Aber gerade ihretwegen bin ich gekommen.

Voller neuer Eindrücke kommen wir wieder nach Kulik, und ohne viel Zeit zu verlieren, widmen wir uns schon bald dem eigentlichen Grund unserer langen Reise: der Jagd. Mein polnischer Jagdführer parkt das Auto am Rande eines Kiefernwaldes. Unzählige Fliederbüsche blühen lila und weiß, verströmen einen so berauschenden, betörenden Duft, dass mir fast schwindelig wird.

Langsam pirschen wir los. Kaum haben wir den Fliederwald hinter uns gelassen, der starke, süße Duft steht immer noch in der Luft, kreuzen zwei Kolbenhirsche unseren Pfad. Der Ältere von ihnen hat bereits Aug-, Eis- und Mittelsprossen geschoben. Über einen Teppich blühender Maiglöckchen ziehen die beiden in der Decke noch ruppigen Hirsche vertraut von uns fort und verschwinden zwischen den Kiefern. Schließlich pirschen wir an einer riesigen Wiese entlang, die so groß ist, dass ihr Ende mit dem der Welt am Horizont zu verschmelzen scheint. Gelb, weiß, blau und lila leuchtet es zu uns herüber. Hier findet das Wild noch abwechslungsreiche Äsung in Hülle und Fülle. In Deutschland sind solche bunten, vielgestaltigen Flächen selten geworden. Die Bauern wurden gezwungen, intensiv zu wirtschaften – die einzige Möglichkeit zum Fortbestehen ihrer landwirtschaftlichen Betriebe.

An einer Kanzel am Waldrand unterbrechen wir unsere Pirsch, um Umschau zu halten. Zwischen den dunklen Stämmen schimmert und blinkt es hell im gleißenden Sonnenlicht. Ein versteckter See liegt nur kaum 100 Meter entfernt. Weit und breit ist kein Reh auszumachen. So habe ich Muße, die Störche zu beobachten. Ab und zu streicht einer ab, dann landen zwei weitere, aber Rehe finde ich nicht. Längst ist die Sonne untergegangen, es ist eisig kalt geworden, als wir abbaumen wollen.

Doch da erhebt sich, 500 oder 600 Meter entfernt, ein Reh aus dem Gras. Ich spekuliere angestrengt durch das Glas, bis mir die Augen tränen, kann es aber nicht ansprechen. Auch mein Führer hat Schwierigkeiten zu sagen, ob es sich um einen Bock oder eine Ricke handelt, aber da steht plötzlich, das Büchsenlicht ist fast vollständig geschwunden, ein zweites, stärkeres Stück neben dem ersten. „Iss sich Bock“, flüstert Jurec neben mir, und in dieser Gewissheit verlassen wir den Hochsitz.

Am nächsten Morgen sitzen wir auf derselben Kanzel und erwarten den Aufgang der Sonne. Eisiger Westwind streicht über die Wiese, zerfetzt und verjagt die Dunstschleier. Das frische Grün wiegt sich, biegt sich tief zu Boden und richtet sich wieder auf wie ein wogendes, silbrig glänzendes Halmenmeer. Kraniche trompeten. Andere Vögel verschweigen noch, als sich der Aufgang der Sonne am östlichen Himmel hinter uns abzuzeichnen beginnt.

In unserem Rücken leuchten am Horizont die ersten Sonnenstrahlen auf. Mein Führer wird nervös. Seine Unruhe steigert sich mit jedem Augenblick des Hellerwerdens, und als sich der rote Sonnenball zu zeigen beginnt, sich schließlich vom Horizont löst, will der Mann den Hochsitz verlassen und bedeutet mir zu folgen. Meine Einwände helfen nicht, und während ich noch einmal die Wiese ableuchte, entdecke ich fast an derselben Stelle wie am vorangegangenen Abend ein Reh. Wieder kann ich es aber nicht sicher ansprechen.

Corza, corza“ – „Ricke, Ricke“ – flüstere ich meine Vermutung, doch Jurec ist trotz meiner Proteste nicht aufzuhalten, und so gehen wir aufrecht hintereinander durch das pitschnasse Gras direkt auf das Reh zu. Vom Boden sehen wir es nur, wenn der Kopf auftaucht. Aber das dauert immer nur wenige Augenblicke, dann verschwindet er sofort wieder im dichten Bewuchs, ohne dass wir es ansprechen können. Jurec geht unbekümmert, ohne stehen zu bleiben, weiter, obwohl das Stück manchmal aufwirft und zu uns her sichert. Wir nähern uns langsam, erkennen im dichten Halmenmeer bereits die Rückenlinie des äsenden Stückes, und je näher wir kommen, desto besser ist es auszumachen.

Als es wieder einmal kurz sichert, spreche ich eine Ricke an. Bis auf knapp achtzig Gänge haben wir uns ihr bereits genähert, und sie steht nun fast frei. Ich schaue zum Hochsitz zurück und muss geblendet meine Augen zusammenkneifen. Nun wird mir auch klar, warum sich mein Führer so unbekümmert auf das Reh zu bewegt. Gegen das grelle Licht der soeben aufgehenden Sonne kann es uns beide nicht eräugen, und da uns der Wind eisig entgegenweht, kann das Stück auch keine Wittrung bekommen.

Nur noch fünfzig Meter von der Ricke entfernt, bedeutet Jurec mir, das Gewehr von der Schulter zu nehmen. Dann nickt er mir zu, steckt zwei Finger in den Mund, holt tief Luft – und ich begreife endlich den Plan meines Jagdführers. Laut gellt ein schriller Pfiff über die Wiesen. Im gleichen Moment schnellt vor der Ricke etwas Rotes aus dem Gras: Es ist ein Bock!

Beide Stücke sichern gebannt zu uns herüber, können uns aber gegen die tiefstehende Sonne nicht ausmachen, und erst als mein Schuss fällt, springen beide ab. Den Bock aber tragen seine Läufe nur noch 20 oder 30 Meter, dann bricht er im dichten Gras zusammen.

Als wir den Bock später zum Auto ziehen, pflückt Jurec einen riesigen Strauß Flieder. Der Duft erfüllt den Innenraum des Wagens, und obwohl die Verständigung zwischen dem Polen und mir schlecht ist, verstehen wir uns, sind uns einig über den wunderschönen Duft und natürlich über die Jagd.

Masuren im Sommer

Masuren im Sommer

Das Ende des Sommers ist bereits zu ahnen. Zahlreiche Kinder winken am Straßenrand, sie wollen uns Pilze und Beeren verkaufen. Körbe, Plastiktüten, Eimer, gefüllt mit Pfifferlingen, Steinpilzen, Maronen, Birkenröhrlingen, Krons- oder Blaubeeren verlocken uns immer wieder zum Halten. Je näher wir der Försterei Kulik kommen, desto mehr Pilz- und Beeren-Sammlern begegnen wir.

„Iss sich großes Kattastroffe“, empfängt uns dann auch Jurec, unser Gastgeber. Schon mit dem ersten Licht des anbrechenden Tages strömen zahlreiche Menschen in die Wälder, suchen die Bestände systematisch kreuz und quer nach Pfifferlingen und Steinpilzen ab und räumen das Feld beziehungsweise den Wald erst wieder, wenn es dunkel geworden ist.

Nix am Tage pirschen, sitzen abends auf Hochsitz“, lautet deshalb die Devise dieser Jagdreise. Ich bin anfangs enttäuscht darüber, dass ich nicht so jagen kann, wie ich es hier in den letzten Jahren durfte, aber noch hoffnungsvoll verlasse ich schließlich mit meinem Jagdführer den Rest der Gesellschaft, und wir fahren los, in den sich bereits ankündenden Abend.

Auf einer verschwiegenen Schneise lehnt ein Motorrad am Baum. Wir stellen unser Auto daneben und pirschen los. Am Wegrand leuchten uns massenweise braunglänzende Hüte großer Birkenröhrlinge entgegen, und an manchen Stellen sieht man wegen des reichen Beerensegens kaum noch die grünen Blätter der Heidelbeersträucher.

Am Weg liegt erneut ein Fahrrad auf dem Boden. Hundert Meter weiter schimmert es hell zwischen den Stämmen hindurch. Es ist ein weiterer Sammler. Wir ziehen an ihm vorüber, ohne dass er uns bemerkt.

Endlich können wir auf einem Hochsitz, an einer Freifläche gelegen, Platz nehmen. Allmählich wird es kühler, und das Licht schwindet mehr und mehr. Schließlich ist auch der letzte Rest Helligkeit erloschen. Wir brechen den Ansitz ab. Wir bekamen kein Stück Wild zu sehen, nur einige Fledermäuse umflatterten die Kanzel.

Auch der folgende Morgen bleibt ohne nennens- oder sehenswerten Anblick für uns. Jurec schimpft laut auf die vielen Pilz- und Beerensucher, und wir, seine Gäste, stimmen ihm zu. Für mich steht fest: Ich werde mein Glück in den nächsten Tagen an einer Wiese versuchen, die nur eine knappe halbe Stunde Fußmarsch von der Försterei entfernt liegt und die ich von meinen Besuchen in den letzten Jahren her kenne.

Ich bin zuversichtlich, dort im sumpfigen Erlenbruch, in dem kaum essbare Pilze zu finden sind und viele Mücken umherschwirren, Ruhe vor anderen Menschen zu haben. Jurec bestärkt mich in meinem Plan, zumal er dort im Frühjahr mehrfach einen auffallend starken Bock gesehen hat.

Ich stapfe am frühen Nachmittag durch hohe Erlenwälder und übermannshohen Brennnessel-Unterwuchs zu der mir vertrauten Kanzel. Es herrscht große Hitze. Schwärme von Mücken, wie zu dieser Jahreszeit gewohnt, surren um mich herum, belästigen mich zwar, können mich aber nicht stechen, weil sie, durch Handschuhe und Mückenschleier gehindert, nicht an meine Haut gelangen können. Trotzdem nerven die Plagegeister sehr, und ich konzentriere mich ihretwegen nicht so auf meine Umgebung wie sonst.

Meine Ahnung hat sich bewahrheitet: Das sumpfige, moskitoträchtige Gebiet ist für Pilzsucher kein aussichtsreicher Ort, von keinem Zweibeiner werde ich auf meinem Gang gestört. Stattdessen ziehen, kaum dass ich es mir auf der Kanzel bequem gemacht habe, zwei pechschwarze Überläuferbachen und kurz danach in gehörigem Abstand ein junger silbergrauer Keiler zielstrebig zu einer 50 Meter vom Hochsitz entfernten Kirrung im Waldschatten am Rand der Erlen und brechen vertraut nach vergrabenen Maiskörnern.

Über eine Stunde kann ich die drei pürzelwedelnden, schmatzenden und grunzenden Schwarzkittel beobachten. Dann ziehen sie vertraut wieder fort, als seien ihnen menschliche Störungen völlig unbekannt. Über die an drei Seiten von Erlen und Brennnesseln umgebene Wiese ziehen anschließend fünf Stück Kahlwild. Auch sie sind völlig vertraut, und ich bin froh über die Wahl meines Ansitzes.

Gegen 21.30 Uhr pirsche ich durch feuchten, schweren Dunst langsam zurück zum Jagdhaus und überlege, ob ich am nächsten Morgen wieder an dieser Waldwiese ansitzen sollte.

Während der Gespräche beim Abendessen erfahre ich, dass keiner meiner drei Freunde an diesem Abend ein Stück Wild gesehen hat. Wo sie auch an den bewährten Einständen in den entlegensten Gebieten pirschten oder ansaßen, krochen Menschen herum. Die Laune der Jäger ist deshalb auf einem Tiefpunkt angelangt. Einer der Männer hatte schließlich aus Verzweiflung einen großen Beutel Pfifferlinge gesammelt, die nun auf dem Küchenherd in der Pfanne brutzeln.

Mein Plan steht daher fest: In der Frühe werde ich wieder zu „meiner“ Kanzel gehen. Als ich mich aufmache, beginnt es schon hell zu werden. In Erinnerung an das köstliche Essen am vorangegangenen Abend, bin ich versucht, von den vielen, gelb leuchtenden Pfifferlingen zu pflücken, aber ich lasse sie ungeschoren oder besser gesagt ungepflückt stehen.

Während des Ansitzes werden die langen Baumschatten auf der großen Fläche schnell kürzer. Bald steht die Sonne schon recht hoch über dem Horizont, vertreibt die Dunstschwaden in den Wald. Plötzlich steht ein Reh auf der Wiese. Es ist ein junger Bock. Sobald ihn die ersten Sonnenstrahlen treffen, leuchtet seine Decke rot auf. Schließlich breche ich den Ansitz ab, klaube aber auf dem Rückweg noch eine Mahlzeit Pfifferlinge zusammen und begebe mich zur Försterei.

Durch den stimmungsreichen, jedoch beutelosen Morgen lasse ich mich nicht entmutigen, zumal ich weitaus mehr Wild sah, als die Freunde, und so sitze ich am Abend wieder an der Wiese. Am gegenüberliegenden Wiesenrand tritt ein Bock aus. Nervös wirft der Jüngling immer wieder auf, äugt in die Runde und zieht dann in den Bestand zurück. Kaum ist er verschwunden, trollt ein junger Keiler über die Wiese, verhofft zweimal und verschwindet ebenfalls im Wald. Noch habe ich das Fernglas vor den Augen, da quietscht und schmatzt es rechts von mir. Kurz darauf wuseln 15 Sauen auf der Kirrung herum, drei Bachen mit ihren zwölf Frischlingen.

Eine knappe Viertelstunde geben mir die Schwarzkittel Gelegenheit, mich über ihr Treiben zu amüsieren. Die Bachen machen einen wenig aufmerksamen Eindruck. Sorglos grunzend brechen sie im zerwühlten Erdreich und wirken durch mein Fernglas betrachtet sehr „zufrieden“. Zwei Frischlingskeiler messen quietschend ihre Kräfte, zwei andere jagen sich im Kreis herum.

Wieder war es ein wunderschöner Ansitz, ohne Störungen durch andere Menschen. Meine inzwischen ziemlich genervten Freunde hatten nicht dieses Glück. Sie alle sind mehrmals durch Pilzsammler gestört oder vertrieben worden.

Am nächsten Morgen um halb vier in der Frühe ist es kühl und noch dunkel. Über dem schwarzen Wald kann man im Osten aber bereits den nahenden Tag, den für mich letzten auf dieser Reise, ahnen, als ich noch einmal zu der Kanzel schleiche. In der Ferne schreckt ein Rottier, und in den Kronen der alten Eichen um das Forsthaus rufen Käuze.

Als ich nach knapp halbstündigem Marsch die Wiese erreiche, wird es schon hell. Nebel kriecht am Boden. Als ich endlich auf der Kanzel sitze, ziehen vier Stück Rotwild über die Fläche. Gegen den hellen Dunst wirken die dunklen Wildkörper gewaltig stark. Es sind Feisthirsche, die anscheinend allesamt schon gefegt haben. Mitunter hallt laut das Geklapper ihrer aufeinanderprallenden Geweihstangen über die Wiese.

Trotz des noch schlechten Lichtes kann ich bereits Stangen erkennen, zum genauen Ansprechen aber reicht die Beleuchtung vorerst noch nicht aus, alsbald ziehen sie im Gänsemarsch in die schützende Deckung. Nach halbstündiger Wartezeit beginne ich auf dem Fliederblatt zu fiepen.

Erst leise und zaghaft, dann immer lauter und fordernder. So sehr ich aber auch starre und horche, es springt kein Bock. Kein noch so leises Knacken dringt aus dem dichten Gestrüpp und Gezweig rund um die Kanzel zu mir herauf. Die Wiese bleibt wildleer.

Zweimal noch blatte ich, dann will ich schließlich aufgeben. Es ist bereits acht Uhr. Da trollen zwei Rehe aus dem dunklen Kiefernbestand auf die sonnenüberflutete Wiese. Tiefrot leuchtet die Decke des ersten, braungelb die des zweiten Stückes: Ricke und Bock. Am gegenüberliegenden Waldrand verhoffen beide und äugen regungslos dorthin, woher sie gekommen waren. Da bricht auch schon mein Schuss. Die Ricke stürmt davon, ist bereits nach wenigen Fluchten zwischen den Erlen verschwunden, der Bock liegt im Feuer.

Ich beobachte ihn noch kurz durch das Zielfernrohr der durchrepetierten Büchse, bis ich sicher bin, dass er verendet ist. Dann unterlade ich das Gewehr, steige die Leiter hinab und arbeite mich durch klitschnasses, hüfthohes Gestrüpp zu dem Gestreckten.

Als ich aus dem Gesträuch auf die freie Fläche trete, bleibe ich schlagartig stehen. Dort, wo die Rehe aus dem Kiefernbestand herauskamen, erscheinen nun zwei Menschen, ein Mann und eine Frau: Pilz-Sammler!

Sie haben mich noch nicht bemerkt, gucken suchend umher, sehen dann den Bock am Waldrand liegen und gehen, sich fröhlich unterhaltend, darauf zu. Ich folge ihnen. Als sie mich bemerken, ergießt sich über mich ein aufgeregter Wortschwall, von dem ich keinen Satz verstehe.

Meine angebotenen Zigaretten werden dankbar angenommen, und als wir sie zu Ende geraucht haben, wissen sich die beiden auch nicht mehr so viel zu erzählen. Schweigend blasen wir drei den blauen Tabakrauch in die klare Luft. Meine Blicke ruhen dabei nachdenklich auf zwei großen Plastiktüten, randvoll mit Steinpilzen gefüllt.

Der Mann bemerkt es wohl, ich entnehme jedenfalls seinen Worten und seiner Gestik, dass er mir diese Köstlichkeit schenken will. Gerne nehme ich sie an und übergebe ihm dafür Herz, Leber, Lunge und Nieren meines Bockes. Schließlich haben mir die beiden Leute die Rehe, ohne es zu ahnen, zugedrückt. Ohne ihre Hilfe wäre ich wieder ohne Beute zurückgekehrt.

Masuren im Herbst

Masuren im Herbst

Ich habe bereits die zehnte Hirschlaus aus meinen Haaren geklaubt und fühle nun, wie die elfte während dieses kurzen Ansitzabends an meinem Hals emporkrabbelt. Es scheinen die einzigen Lebewesen um mich herum zu sein, obwohl der Wind intensive Brunft-Wittrung zu uns herüber trägt. Die Brunft des Rotwildes scheint vorüber zu sein, kein Hirsch meldet, nur ein Kauz ruft in der Dämmerung des diesig trüben Herbstabends, als ich mich mit meinem Ruf zaghaft melde. Keine Antwort, keine Stimme, kein Laut, kein Rotwild. Wir geben für diesen Abend auf.

Auch der nächste Morgen lässt das Revier rotwildfrei erscheinen. Mit einem Autowinzling werde ich von Jurec noch bei Dunkelheit zu verschiedenen Ecken des über 20.000 Hektar großen Jagdgebietes gefahren, um zu verhören. Doch das Einzige, was nach Hirsch klingt, sind die Laute meines Rufens. Zweimal glauben wir weit entfernt einen Trenzer gehört zu haben.

Aber nachts klart es auf, wird bitterkalt, und am nächsten Morgen ist das Laub des am Forstamt emporrankenden Weines blutrot gefärbt. Auch der Wald nimmt zusehends herbstliche Färbung an.

Kilometer um Kilometer pirschen Jurec und ich auf weichen Moospolstern durch gewaltige Kiefernaltholz-Bestände, in deren Schatten sich Fichten-Naturverjüngungen gebildet oder einzelne Buchen ausgesamt haben. Da: ein Trenzer, und danach erklingt der Schrei eines älteren Hirsches. Ich habe es kaum noch zu hoffen gewagt!

Ein Tier ist offenbar im Vorjahr verspätet beschlagen und deshalb erst wieder so spät brunftig geworden. Urplötzlich röhren mehrere Hirsche aus derselben Richtung, und wenn man nach der „Tiefe“ ihrer Stimmen schließen könnte, sind es zumeist „ältere Herren“.

Das Brunftkonzert kommt aus der Nähe eines großen Sees, höchstens 500 Meter von uns entfernt. Im Walde ist es noch stockdunkel, aber auf den freien Flächen vor uns ist bereits der Morgen zu ahnen. Die Helligkeit naht mit großen Schritten, ab und zu hören wir noch einen faulen Trenzer, aber mit dem zunehmenden Licht verschweigen die Hirsche nach und nach.

Am Abend hängen die Wolken wieder recht tief, es ist warm und ruhig im Wald. Gewiss wird es früh dunkel werden. Trotzdem will ich gegen den Willen meines Führers versuchen, mit ihm gemeinsam den Hirsch in dessen Einstand anzugehen. Am Rande des Schilfwaldes angekommen, rufe ich, und sofort antwortet nicht weit von uns nämlich eine tiefe Stimme. Es klingt eher wie ein Brüllen, rauh und herrisch, ja fast bösartig.

Der Wind steht günstig für uns. Jurec versucht, mir mit Armbewegungen, die an verzweifeltes Schwimmen vor dem Untergehen erinnern, etwas zu erklären. Dann hält er sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase wie ein Ertrinkender zu und scheint von der Idee, dem Hirsch in das Schilf zu folgen, nicht begeistert zu sein.

Ich merke kaum, dass mein Führer den Kopf schüttelt und versucht, mich von meinem Vorhaben abzuhalten, dann aber zurückbleibt, während ich, ohne länger zu überlegen, in den Rohrdschungel eindringe. 50, 100, 150 Meter komme ich gut voran.

Wenn der Hirsch knört, knöre ich zaghafter, ruft er, rufe auch ich, allerdings etwas leiser. Dieses Frage- und Antwortspiel dauert über 20 Minuten, ohne dass wir uns näher kommen. Zwischendurch mahne ich, aber der Hirsch lässt sich auch hierdurch nicht beirren, sondern zieht scheinbar langsam vor mir her. Es herrscht Ruhe im Schilf.

Doch dann erschallt aus dem dichten Röhricht unvermittelt wieder eine Antwort. Tief und dumpf klingt diese Stimme, und wie ein Echo tönt es vor mir dreimal kurz: „Och-och-och“, der Sprengruf „meines“ Hirsches. Da entdecke ich im hohen Kraut eine Bewegung. Leuchtende Stangen-Enden lassen mich zusammenfahren und behutsam das Glas vor die Augen nehmen, aber es sind sich im Wind wiegende Blütenstände hoher Gräser.

Bevor ich mich noch über den Spuk ärgern kann, stößt in unmittelbarer Nähe ein anderer Hirsch mit gewaltiger Stimme an, dass mir fast die Ohren dröhnen, so nah steht er vor mir. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Natürlich verschweige ich, aber auch mein „Gegner“ bleibt stumm. Dann vernehme ich Plätschern, offensichtlich befindet sich ganz nah vor mir eine Suhle.

Geduckt schleiche ich nach ein paar Minuten weiter. Die Begegnung mit einem 66-Ender hätte mich kaum tiefer treffen können: Vor mir fließt träge – das ist die größte Blamage meines Urlaubs – ein breiter Fluss dahin. Natürlich wusste Jurec, dass die Hirsche fast ausschließlich auf der anderen Seite des Flusses brunften und ließ mich daher auch schmunzelnd alleine losziehen.

Amüsiert über die Schlitzohrigkeit meines Führers und ärgerlich über meine eigene Überheblichkeit, arbeite ich mich durch das Dickicht zurück und komme schließlich, als die Dämmerung bereits fortgeschritten ist, über 100 Meter unterhalb der Stelle aus dem Schilf, an der wir uns eine Stunde zuvor getrennt haben.

Trotzdem sind wir beide, auch wenn ich eine gewisse Schadenfreude bei meinem Führer zu bemerken glaube, vergnügt. Ich hatte eine aufregende dreiviertel Stunde und 200 spannende Meter, teils geduckt, teils fast robbend durch dichtes Weidengestrüpp, fast schulterhohe Brennnesseln und dann wieder „nur“ knietiefes Schilfgras hinter mir und bin trotz des Misserfolges zufrieden.

Am nächsten Morgen ist es wieder ruhig. Ab und zu ahme ich die Stimme eines schwächeren Hirsches nach, aber nur ein Rudel Kahlwild zieht vor uns durch das dämmerige Kiefernholz. „Was für eine Strategie könnte man noch entwickeln?“ überlege ich, da schreit plötzlich ein Hirsch. Jurec und ich schauen uns verdutzt an. Wir bücken uns wie auf ein geheimes Zeichen gleichzeitig, streifen Samen vom Gras ab und werfen es in die Luft. Der Wind weht vom Hirsch her, der erneut aus einem mit hohen Erlen und dichtem Weidengestrüpp bestandenen Sumpfgebiet meldet. Ich ahme den Ruf eines suchenden jungen Hirsches nach, und wenig später kommt Antwort. Leicht geduckt schleichen wir vorsichtig auf die Stimme zu. Es ist mittlerweile taghell geworden.

Wegen der vielen trockenen Zweige und Äste auf dem Boden ist es unmöglich, leise zu gehen, und wir geben uns auch keine Mühe. Laut knackt und bricht es, als wir uns dem ständig antwortenden Hirsch nähern, ebenso geräuschvoll kommt der uns entgegen. Bald ist er nur noch 40, 50 Gänge entfernt und fegt erregt im Weidengestrüpp, dass es kracht.

Aber wir können den Hirsch nicht sehen. Lediglich sich wild hin und her bewegende auf- und niederschlagende Zweige nehmen wir wahr. Längst sind wir in die Knie gegangen, haben uns auf dem durchweichten Boden dicht zusammengehockt, starren zu dem in Aufruhr geratenen Busch, doch da verschweigt unser unsichtbares Gegenüber. Nichts ist mehr zu hören, die Stille wirkt nach den aufpeitschenden, lauten Minuten beklemmend.

Schließlich ahme ich den mahnenden Ruf eines Tieres nach. Sofort gerät der Busch wieder in wilde Bewegungen, und ich erkenne die Läufe des Hirsches. Im Halbkreis zieht er um uns herum. Der Bewuchs ist aber so dicht, dass wir den Wildkörper nur mehr ahnen als sehen können.

In Richtung des Hirsches schlängelt sich ein Graben mit breiten, freien Uferrändern, auf denen lediglich kurzes Gras wächst. Das registriere ich erfreut und richte die Laufmündung meiner Büchse dorthin, um im Fall des Falles sofort schießen zu können.

Nun meldet der Hirsch wieder, und dann habe ich ihn im Zielfernrohr. Ein mächtiger Wildkörper. Aber es täuscht, er wirkt auf höchstens zwanzig Gänge nur so stark. Vor uns steht ein hoffnungsvoller fünf- bis sechsjähriger Kronenhirsch am Grabenrand, legt sein Geweih zurück und röhrt. Dann zieht er weiter, wird vom dichten Busch förmlich verschluckt und kommt schließlich in unseren Wind. Ärgerliches Schrecken, Brechen, dann ist der Spuk vorbei.

Noch ganz erfüllt von dem Erlebten, zünden wir uns eine Beruhigungszigarette an und pirschen dann langsam zurück. An einem Kahlschlag erkenne ich durch das Glas einen hellen Spiegel. Nur kurz, dann springt das Stück Rehwild ab, und meine Blicke verfolgen es durch das Pirschglas: eine Ricke. Als ich das Glas von den Augen nehmen will, registriere ich wieder eine Bewegung. Ein Zweig kann es nicht sein, denn es ist völlig windstill, und doch bewegt sich auf dem Schlag etwas, schwankt auf und ab.

Wie Schuppen fällt es mir von den Augen: Es ist kein trockener Ast, sondern eine Geweihstange, die sich dort hin und her bewegt. Und dann sehe ich auch das Ende der zweiten Stange, eine dunkle, wuchtige Gabel. Noch ist der Hirsch verdeckt, aber ganz allmählich schiebt sich der massige Wildkörper aus dem Beerengestrüpp. Längst habe ich die Büchse auf der Schulter meines Jagdführers aufgelegt, den Hirsch im Absehen des Zielfernrohres. Und als er frei und breit steht, fällt der Schuss. Bis zum Rand der Blöße tragen die Läufe den todwunden Hirsch noch, dann sehen wir ihn zusammenbrechen. Wir genehmigen uns die zweite Beruhigungszigarette an diesem Morgen und stehen danach schweigend vor einem abgebrunfteten, ungeraden alten Zehner.

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