1/2012
Brunft fast vorbei, Wetter sommerlich Tage der Entspannung mit nur wenig Jagd waren geplant. Doch solche Vorsätze können im masurischen Herbst beim Schrei der Hirsche ganz schnell hinfällig werden!
Von Dr. Karl-Heinz Betz
Ideale Hirschbiotope – zugewachsene Wasserläufe und undurchdringliche Dickungen aus Hasel und Hainbuche. Foto: Dr. Betz |
Wir waren zu zweit. Der quirlige Jörg begleitete mich. Er kennt das Revier. Zwei Hirsche meldeten am 24. September, obwohl das Quecksilber über die 20-Grad-Marke geklettert war. Unsere Pirsch führte entlang eines Wasserlaufes, dessen Ufer krautig-dicht bewachsen und von Schwarzerlen und Aspen gesäumt waren. Selbst hier trieben die sich rasant ausbreitenden Biber ihr Unwesen: Kegelförmig gekappte Zitterpappeln und Dammbauaktivitäten signalisierten die Gegenwart des großen Nagers.
Weiter im Bestand dominierten Kiefer als Überhälter, Hainbuche und Haselnuss. Eingesprengt immer wieder Eichen. Unser Weg führte uns vom Gewässer weg, einem leicht ansteigenden Wechsel folgend. Der Hirsch scheint unter den masttragenden Eichen zu stehen. Wir müssen auf das versteckt stehende Kahlwild achten!, mahnte Jörg flüsternd.
Wir schoben uns weiter den starken Eichen mit dickichtartigem Unterwuchs entgegen. Doch dann vernahmen wir statt des erhabenen Hirschrufes plötzlich in unmittelbarer Nähe Grunzen und Quieken: Eine Rotte Sauen war bereits unterwegs, um unter den Bäumen nach Eicheln zu suchen. Auf Zehenspitzen umgingen wir bei passablem Wind die Schwarzkittel.
Der Geweihte schien indes weitergezogen zu sein, denn sein Melden kam aus immer größerer Entfernung. Wir erreichten einen Hirsch. Auch er trat nur kurz ins Freie, um sich danach den Eicheln zu widmen. Doch der kurze Moment reichte, ihn anzusprechen: ein guter Zwölfer vom 7., 8. Kopf mit 6 bis 7 Kilogramm Geweihgewicht. Zukunft! Zufrieden und still wanderten wir unter klarem Sternenhimmel die paar Kilometer zurück zu unserem Fahrzeug.
Goldmedaillenhirsch: 26-Ender mit 8,8 kg Geweihgewicht und 213 CIC-Punkten. Erlegt am 23. September 2010. Foto: privat |
Ich war erst am Mittag von Warschau aus in die Oberförsterei Strzalowo in der Johannesburger Heide angereist und wollte es eigentlich ruhig angehen lassen. Jörg Eberitzsch, mit seinem Jagdbüro Kahle Spezialist für Reviere im Nordosten Polens, hatte mich knapp zwei Wochen zuvor gefragt, ob ich ein paar Tage entspannen wollte. Er hätte nach dem 24. September die meisten Gäste auf Brunfthirsch verabschiedet und ein wenig Muße für ein paar Erholungstage.
Ich hatte zugesagt, hatte aber keine ernsthaften Neigungen, auf einen Geweihten zu weidwerken. Mir würde es reichen, ein wenig aus der täglichen Tretmühle auszuscheren, ein paar neue Reviere kennenzulernen, vielleicht ein paar bewaffnete Pirschgänge durch die herbstlichen Wälder zu machen.
Wenn man ganz ohne Erfolgsdruck losfährt, erhält eine solche Unternehmung eine völlig andere Qualität. Und wie das so ist: Appetit kommt beim Essen. Das Orgeln der Hirsche, die Brunftwittrung in den Einständen, vermischt mit dem Geruch nach Herbst, der Schrei der ziehenden Gänse wer da in Nikolaiken ruhig beim Kaffee am See den Sonnenuntergang bestaunen kann, den hat Hubertus mit wenig jagdlicher Passion bedacht. Dann ein weiteres appetitanregendes Ereignis: Am Abend hatten Oberförster Zbigniew Cicpluch mit seinen Jagdführern für die abreisenden Gäste eine Trophäenschau organisiert, auf der nicht nur die erlegten Hirsche präsentiert wurden, sondern im flackernden Feuerschein Köstliches für Gaumen und Zunge gereicht und Lieder intoniert wurden. Es gab ein paar sehr ordentliche Hirsche, deren Kopfschmuck über 8 Kilogramm lag und meine platonischen Vorsätze stark ins Wanken brachten.
Aus dem Gesagten ist die Begründung abzuleiten, warum ich mich mit Zbigniew und Jörg am nächsten Morgen vor Tau und Tag wieder im Revier befand. Es fiel auf, dass die Hirsche in geringer Entfernung zueinander meldeten. Daraus schlossen wir, dass nur noch einzelne Stücke brunftig waren, diese aber die Herren der Schöpfung wie ein Magnet anzogen. Geräuschlos bewegten wir uns auf dem Pirschpfad voran. Zbigniew hatte ein Netz von über 22 Kilometern anlegen lassen. Eine gute Investition, denn die Hotspots ließen sich auch bei wechselndem Wind geräuschlos erreichen. Eine solche Meldestelle visierten wir im ersten Dämmerlicht an. Mitten im Bestand wollten wir auf einem Hochsitz in der Nähe eines Moores das Büchsenlicht erwarten.
Husten- und Lachanfall
Biber verändern dramatisch die Landschaft, nicht immer eine ökologische Bereicherung. Foto: Dr. Betz |
Unmittelbar vor uns krachte es im Unterholz. Es waren wieder Schwarzkittel, die nach Eicheln suchten. Eine starke Bache brach mit ihren vier kräftigen Frischlingen nach Untermast. Immer wieder hielt sie inne und stellte misstrauisch die Teller wie zwei Satellitenschüsseln auf, um die Umgebung zu prüfen. Als sie endlich mit ihrem Nachwuchs abgezogen war, baumten wir ab und versuchten, eine Stimme anzugehen, die der Oberförster für verheißungsvoll hielt.
Ein paar Stücke Kahlwild kreuzten unseren Weg, ohne Argwohn zu schöpfen. Aber es schien, als würde der Hirsch vor uns herziehen. Wir versuchten, ihm den Weg abzuschneiden und durchquerten auf einem Rotwildwechsel das schwankende Moor. Alles ging gut, und unser Trupp näherte sich langsam der dröhnenden Stimme. Wir standen vor einer Geländekuppe, mitten in einem Kiefernbestand. Langsam schoben wir uns über die kleine Erhöhung und pirschten auf dem durch Nadeln gut gepolsterten Waldboden voran. Hier musste er irgendwo sein!
Noch ein paar langsame Schritte und dann sahen wir seine Läufe. Doch was hatte er auf? Zbigniew hatte fast Kontakt mit der Nadelstreu, um unter der Beastung hindurch mehr vom Hirschkörper, speziell vom Haupt, zu erkennen. Ein weiterer Schritt, und urplötzlich hustete der Oberförster lauthals in den Wald. Der Hirsch prasselte davon, und wir wussten nicht, ob wir lachen oder weinen sollten. Zbigniew sah schon ziemlich beklagenswert aus, als er mit hochrotem Kopf versuchte, das Kratzen im Hals zu besiegen. Wir lagen inzwischen auf der Erde und lachten, bis uns die Tränen über die Wangen liefen. So etwas konnte also auch einem Profi passieren, der hunderte von Jagdgästen erfolgreich auf Hirsche geführt hatte.
Spuren eines Wolfes
Erlegt am 23. September 2010: 9,9 kg Geweihgewicht und 217 CIC-Punkte. Foto: pivat |
Entspannt machten wir uns auf den Weg zum Fahrzeug. Nur wenige hundert Meter weiter standen wie gemeißelt die frischen Spuren eines starken Wolfes im Sand. Wir hatten fast den Wagen erreicht, als ein Geweihter vom 8./9. Kopf unseren Weg kreuzte. Um die 8 Kilogramm Geweihgewicht, aber noch ein wenig zu jung, kommentierte fachkundig unser Oberförster, der inzwischen seine Stimme wiedergefunden hatte.
Obwohl der 25. September ein Sonntag war, ließ es sich Zbigniew nicht nehmen, am Nachmittag wieder mitzukommen. Vielleicht nervte ihn auch ein wenig der Vorfall auf der Frühpirsch. Also wieder zu dritt hinaus bei Sonnenschein und Temperaturen um 20 Grad. Es war noch recht früh, vom Kirchturm hatte es gerade 4-mal geschlagen. Also setzten wir uns mit einer Flasche Bier hoch über einem See ins Gras, genossen den Ausblick über die weite Wasserfläche, die breiten Schilfstreifen und die Wälder und horchten aufmerksam in die Runde.
Nach 10 Minuten meldete der erste Hirsch gar nicht so weit entfernt. Wir warteten. Weitere Hirsche fielen ein. Eigentlich völlig unmöglich bei diesen Temperaturen, wenn man nach den Regeln geht. Zbigniew hatte offenbar eine Eingebung: Wir fuhren eine kurze Strecke und ließen dann das Fahrzeug an einem Pirschpfad stehen. Links und rechts sprossen intensiv Haselnusssträucher.
Wir hatten kaum ein paar Schritte gemacht, als direkt vor uns ein Hirsch meldete. Wir gewahrten nur seine Rückenlinie, dann entschwand der Wildkörper unseren Blicken. Langsam tasteten wir uns voran. Keine 3 Minuten später, gar nicht weit, ein Trenser, dann ein markiger Schrei und heftiges Stangenkrachen. Jetzt galt es. Solange die beiden Geweihten mit sich beschäftigt waren, mussten wir uns im Eiltempo nähern. Hoffentlich rannten wir nicht irgendwo ins Kahlwild hin ein.
Hirschtreffen zwischen Haselnüssen
Achtjähriger Eissprossenzehner mit knapp 5 kg Geweihgewicht. Ein Selektionshirsch der gehobenen Mittelklasse. Foto: privat |
Wir bahnten uns so schnell und leise es ging einen Weg durch die Haselnuss-Ausschläge. Dann waren wir dran. Doch sehen konnten wir nichts. Urplötzlich ein Knacken von links: Ein weiterer Hirsch näherte sich dem uns noch verborgenen Kampfplatz. Als das Dickicht ihn freigab, ging der Puls nach unten: Blutjunger Eissprossenzehner ein Zaungast. Wir hatten uns auf einen umgestürzten Baum gehockt und starrten geduckt in das Astgewirr. Weiteres Krachen aufeinanderprallender Stangen. Ein Wildkörper brach zur Seite weg, und triumphierend orgelnd zerteilte keine 20 Schritte vor uns der Sieger die grüne Wand: ein beeindruckendes Bild. Doch trotz der starken Brunftmähne verrieten uns Gesicht und Körper zwar einen Kraftprotz, aber keinen reifen Hirsch. Unbehelligt zog er auf kürzeste Distanz an uns vorüber und tauchte im Dickicht unter. Ob jagdbar oder nicht, es war ein Gänsehaut-Erlebnis.
Langsam zogen wir uns auf den Pirschpfad zurück. Keine 200 Meter weiter meldete ein anderer Hirsch. Was war hier los? Offenbar eine Hirschkonzentration, aber ohne Kahlwild. Oder hatte es sich in diesem Dschungel nur nicht gezeigt? Wir näherten uns gerade einer Kuppe, als wir feststellten, dass der meldende Hirsch von unten auf uns zuzog. Und er war näher, als wir geglaubt hatten. Vor mir rutschten Jörg und Zbigniew auf die Knie, dann auf den Bauch. Ich verdrückte mich hinter eine Hainbuche. Dann sah ich die Läufe des Geweihten, mehr nicht. Er bewegte sich den Hang hinauf Richtung Pirschpfad, den er auf 30 Schritt kreuzen musste. Zbigniew, der fast zu meinen Füßen lag, schüttelte es, und als der Hirsch den Pirschpfad kreuzen wollte, hörte ich von unten Schieß!. Dann sah auch ich ihn. Die Vorderläufe schienen mitten unter dem Körper zu stehen, soviel Vorschlag registrierte ich in Bruchteilen von Sekunden. Das Geweih war auf Anhieb nicht einzuordnen. Zweifellos ein jagdbarer Hirsch. Er machte noch einen kurzen Satz und verhoffte mitten auf dem Pirschpfad.
Beide Begleiter liegen am Boden
Der reife Goldmedaillenhirsch aus der Johannesburger Heide mit 9,1 kg Geweihgewicht. Foto: privat |
Die Mündung meiner Waffe zeigte jedoch nach unten. Alles war so schnell gegangen. Ich entschied mich für ein zeitlupenartiges Heben des Laufes. Der Hirsch hielt immer noch aus! Meine beiden Begleiter wagten nicht, den Kopf zu drehen. Während ich den Lauf in Augenhöhe brachte, hatte ich den Spannschieber der R 93 schon nach vorn gedrückt. Kaum befand sich das Absehen auf dem Blatt, fiel der Schuss.
Im Knall riss es den Hirsch von den Läufen mitten auf dem Pirschpfad. Ich blieb auf dem Wildkörper, denn ein so plötzliches Zusammenbrechen nährte den Verdacht eines Krellschusses. Der kurz danach angetragene Fangschuss aus der .308 war überflüssig. Der erste Schuss lag hochblatt. Meine beiden Begleiter rappelten sich auf und blickten mich verständnislos an: Warum hat das denn so unendlich lange gedauert? Das hätte in die Hose gehen können!
Wir gingen gemeinsam zum Hirsch, und es verschlug uns die Sprache: Vor uns lag ein reifer ungerader Vierzehnender mit ungewöhnlich breiten Stangen. Nur wenige Momente gab uns der Hirsch für die Entscheidung. Und dass sie richtig gewesen war, wurde später klar: 9,1 kg Geweihgewicht 24 Stunden nach dem Abkochen, 211 CIC-Punkte: Goldmedaille.
Von solch einem Hirsch hatte ich immer geträumt. Obwohl ich 8 Jahre lang berufsbedingt in fast allen Revieren Polens jagen durfte und obwohl ich speziell in den polnischen Karpaten sehr viel Zeit und Mühe investiert hatte, war es nun ausgerechnet die Johannesburger Heide, die mir diesen Hirsch schenkte.