Schotter, Schnee und scheue Böcke – Neuseeland

3472


Seit einer Stunde haben wir die Zivilisation hinter uns gelassen. Nachdem wir das letzte Gatter wieder hinter unserem Pick-Up verschlossen hatten, waren wir nur noch querfeldein gefahren. Zu beiden Seiten des breiten Talkessels erhoben sich lange, steile Bergzüge. Neuseeland – Heimat der Tahre

Von Michael Herter

Tahr-Jagd
Ein unvergessliches Erlebnis- mit einem erfolgreichen Abschluss
Die schneebedeckten Gipfel und der steinige Talgrund machten einen sehr kargen Eindruck. Unweigerlich fragte ich mich, wie in dieser Umgebung Schalenwild, noch dazu in guten Beständen, überleben konnte. Nun, Walter, unser Jagdführer für die bevorstehenden sechs Tage, schien sich seiner Sache jedenfalls sicher zu sein. Er hatte uns am Vorabend am Kaminfeuer erklärt, dass dieses Tal mit den umliegenden Bergen, inmitten einer 50 000 Hektar großen Schaffarm gelegen, sein bestes Jagdgebiet für Tahre sei. Und deshalb war ich ans andere Ende der Welt gereist, um auf dieses faszinierende Bergwild zu jagen.
Ursprünglich im Himalaya-Gebirge beheimatet, wurden Tahre um 1900 auf der Südinsel Neuseelands ausgewildert. Heute ist dieses Vorkommen für den Jäger das mit Abstand bedeutendste weltweit, weil die Bejagung dieses Wildes in seiner ursprünglichen Heimat nur mit erheblichem finanziellen und zeitlichen Aufwand möglich ist.
Als wir mit unserem Geländewagen fast bis ans Ende des Tals vorgedrungen waren, erreichten wir endlich unser Zuhause für die nächsten Tage: eine einfache Wellblechhütte mit offenem Kamin, Stockbetten und einem Tisch in der Mitte. Das „fließende Wasser“ von der nahen Quelle war eingefroren, so daß wir uns mit dem mitgebrachten Kanister begnügen mussten. Neben der Hütte war noch ein gut gefüllter Holzschuppen vorhanden.
Es war jetzt kurz nach Mittag, und weil es zu schneien begonnen hatte und die Sicht entsprechend schlecht war, beschlossen wir, Pause zu machen. Schnell war der Kamin angeheizt. Wir packten die mitgebrachte Brotzeit aus, und als schließlich auch noch die Wärme des Feuers langsam durch die ausgekühlten Schuhe kroch, wurde es richtig gemütlich.
Walter erklärte uns den Plan für die nächsten Tage. Heute und morgen wollte er, soweit die Sicht das zuließ, nur die Hänge abglasen. Er wollte einen genaueren Eindruck über die Anzahl, Stärke und den derzeitigen Einstand der Tahre bekommen. Tahre sind sehr standorttreu, so dass die gewonnene Erkenntnis für die gesamte Dauer der Jagd genutzt werden könnte. Daher war auch zunächst kein Pirschgang vorgesehen.
Nach der kurzen Pause stellten wir fest, dass der Schneefall zwar noch nicht aufgehört hatte, dennoch war die Sicht etwas besser geworden. Wir wollten einen Versuch starten; das war sicher besser, als untätig in der Hütte zu sitzen! Als Walter den Wagen angelassen hatte und losfahren wollte, tat sich zunächst gar nichts. Alle Räder blockierten! Walter lüftete das Geheimnis: Bei der Durchquerung mehrerer, bis etwa 30 Zentimeter tiefer Bachläufe auf der Anfahrt waren die Bremsen nass geworden. Während unserer Mittagspause war das Wasser gefroren, und jetzt waren die Räder blockiert. Nach mehrmaligem Spiel mit der Kupplung knackte es laut, und schließlich konnten wir losfahren. Eine ganz neue Erfahrung für den von der Zivilisation verwöhnten Autofahrer. Hier in der neuseeländischen Wildnis jedoch eine Selbstverständlichkeit, die wir in den nächsten Tagen noch häufiger erlebten.
Nach ein paar hundert Metern Fahrt hielten wir zum ersten Mal an, mitten im Tal. Stefan und ich spähten mit unseren Ferngläsern die Berghänge ab, während Walter durch das Spektiv nach Wild suchte. Eigentlich schien es ein Leichtes zu sein, auf den frisch verschneiten Hängen etwas auszumachen. Trotz des großen Blickfelds und sorgfältigem Abglasen konnten wir hier jedoch alle nichts entdecken. Walter erklärte uns, dass Tahre im Vergleich zu Gamswild ungleich schwerer im Gelände zu entdecken sind. Zum einen wegen ihrer fahlbraunen Decke, die eine vorzügliche Tarnung darstellt. Mehr jedoch noch aufgrund der Verhaltensweise. Während in einem Gamsrudel fast immer Bewegung ist, weil einzelne Stücke umherziehen und diese Bewegung dann auf das ganze Rudel aufmerksam macht, verhalten Tahre sich äußerst passiv. Fast den ganzen Tag verbringen sie ruhend und bewegen sich dabei oft für Stunden nicht. Aktiv werden sie vornehmlich gegen Abend, wenn sie die tiefer gelegenen Äsungsgründe aufsuchen.
Aufgrund dieser bekannten Passivität wird bei schneebedeckten Hängen daher nicht nur nach den Rudeln selbst gesucht, sondern auch nach im Schnee hinterlassenen Fährten. Diese lassen sich erstaunlicherweise auch auf mehr als 1000 Meter noch einwandfrei erkennen.
Momentan traf dies natürlich nicht zu, weil es seit Stunden schneite. Wir bestiegen wieder den Geländewagen, um woanders einen erneuten Versuch zu starten. Während wir durch die unwirklich karge Landschaft fuhren, in der es wohl kein weiteres Leben zu geben schien, kam dennoch immer wieder Niederwild in Anblick. Vor allem Feldhasen ließen sich schon auf große Entfernung von dem herannahenden Wagen aus ihrer Sasse aufscheuchen. Sie flüchteten über den weiten, nun verschneiten Talgrund. Aber auch Kaninchen kamen in Anblick und außerdem verschiedene Enten. Vor allem die einheimischen Paradiesenten, die vornehmlich paarweise auftreten und mit ihrem auffälligen Federkleid kaum zu übersehen sind, wurden bald zum vertrauten Anblick.
Etwa alle 500 Meter hielten wir an, um nach Tahren Ausschau zu halten. Nach Auskunft von Walter gab es in diesem Talkessel praktisch kein anderes Schalenwild. Ganz allgemein scheinen Tahre in ihrem Einstandsgebiet kein anderes Wild, insbesondere Gamswild, das ähnliche Biotope bewohnt, zu dulden. Jedenfalls gäbe es kein ihm bekanntes Revier, das sowohl für Gams wie auch für Tahr gut sei, obwohl Walter auch keine überzeugende Erklärung dafür wusste, weil er noch nie aggressives Verhalten bei Tahren gegenüber anderen Wildarten beobachten konnte.
Heute schien es aber überhaupt kein Wild zu geben. Auch nach zwei Stunden hatten wir noch nichts erblickt. Bei einem erneuten Stopp ließ daher bei mir die Konzentration schon etwas nach, als Walter plötzlich etwas entdeckt hatte. Auf dem Gegenhang, ziemlich weit oben, nahe einem Grat, zog ein Rudel Tahre. Walter beschrieb mir die Stelle anhand der Felsformationen exakt, so dass ich gezielt suchen konnte. Und wirklich, nachdem ich die Stelle eine ganze Weile genau gemustert hatte, bewegte sich ein verdächtiger Punkt ein bisschen.
Der erste Tahr! Dann sah ich immer mehr Punkte, bis ich schließlich ein achtköpfiges Rudel ansprechen konnte. Weit oben am Berg, über steilen, verschneiten Hängen und solchen, die zu steil waren, dass sich Schnee halten konnte. Wie sollte man da jemals hinkommen, noch dazu ungesehen? Wir hatten zwar nun Wild in Anblick, aber dieser Anblick machte die Jagd in meiner Einschätzung nur noch schwieriger. Zum genauen Ansprechen war die Entfernung viel zu weit, aber ein starker Bock schien nicht bei der Gruppe dabei zu sein. Da es auch schon dämmerte, machten wir uns auf den Rückweg.
Das Aufstehen am nächsten Morgen benötigte etwas Überwindung. Im Schlafsack war es mollig warm, aber die Hütte war eiskalt, das Kaminfeuer schon lange erloschen. Die Fensterscheiben waren dick von innen gefroren. Ein Blick vor die Hütte machte uns aber neuen Mut: In der Nacht hatte der Schneefall aufgehört, und jetzt war ein unbeschreiblich schöner Morgen angebrochen. Das ganze Tal jungfräulich weiß. Klare, kalte Luft, die den Atem gefrieren ließ und dazu ein Sonnenaufgang wie aus dem Bilderbuch. Das war ideal für unser heutiges Unterfangen!
Nach einem ausgiebigen Frühstück packte sich jeder noch eine Brotzeit zusammen, und dann fuhren wir los. Heute lief alles ganz anders. Schon bei unserem ersten Stopp, an derselben Stelle wie den Tag zuvor, konnten wir nach wenigen Augenblicken ein Rudel Tahre ausfindig machen. Relativ weit unten im Hang und trotzdem wegen fehlender Deckung unerreichbar. Es war kein interessanter Bock dabei, doch war das ein guter Beginn. Beim nächsten Stopp konnten wir gleich zwei Rudel ausmachen, dazu zahlreiche frische Fährten am Hang. Auch ein recht guter und ein kapitaler Bock waren diesmal dabei. Die Plätze waren vorgemerkt! So ging es weiter.
Am Nachmittag hatten wir den größten Teil des Talkessels abgeglast und nicht weniger als 95 Stück Tahrwild in Anblick gehabt! Darunter etwa sechs bis acht jagdbare Böcke. Das war genug Erkenntnis für die kommenden Tage. Walter schätzte, dass wir fast den gesamten Bestand dieses Tals gesehen hatten, was er allein auf die perfekten Bedingungen zurückführte. An all den Stellen, an denen wir gestern nichts ausmachen konnten, waren heute Tahre. Aus seiner Erfahrung erklärte er uns, dass Tahre nach stärkeren Schneefällen aktiv werden und etwas tiefer gelegene Stellen aufsuchen. Dabei kann man sie dann leichter entdecken.
Es war jetzt 15 Uhr vorbei, und wir wollten noch einen ersten, kleineren Pirschgang dort unternehmen, wo wir am Morgen die ersten zwei guten Böcke gesehen hatten.
Sobald wir den Talgrund verlassen hatten, ging es steil bergan. Schon bald „dampfte“ ich ganz ordentlich und war froh, als wir hinter einem großen Felsen die erste Pause zum Abglasen einlegten. Direkt über uns, hoch im Hang, konnten wir bald drei Tahre ausmachen: ein Bock mit zwei weiblichen Stücken. Walter schätzte den Bock auf vier, maximal fünf Jahre und nicht sonderlich stark. Kurz darauf erblickten wir weiter links, noch höher als die erste Gruppe, weitere Tahre. Dabei waren auch die beiden Böcke vom Morgen. Starke, begehrenswerte Trophäenträger! Aber weit weg! Es war jetzt fast fünf Uhr, und das Licht wurde bereits schwächer. Sollten wir noch einen Versuch unternehmen? Nach kurzem Überlegen gingen wir weiter.
Aber nach vielleicht 100 zurückgelegten Höhenmetern und einem erneuten Blick durchs Fernglas sahen wir ein, daß wir heute keinen Erfolg mehr erzwingen konnten. Zu weit war das Wild entfernt, und um das vor uns liegende, offene Gelände weiträumig zu umgehen, reichte die Zeit definitiv nicht mehr aus. So kehrten wir lieber um, um das Wild nicht unnötig zu vergrämen und unsere Chancen für den kommenden Tag nicht zu schmälern.
Am nächsten Morgen machten wir uns schon in der Dämmerung fertig. Es versprach abermals, ein herrlicher Tag zu werden. Der Himmel war sternenklar und die Luft fast windstill. Bei eisiger Kälte machten wir uns kurz nach sechs Uhr direkt von der Hütte aus auf den Weg. Wortlos und konzentriert kamen wir rasch voran und hatten bald die Stelle erreicht, an der wir am Vorabend das erste Mal die Hänge abgespäht hatten. Noch war kein Wild zu sehen. Nun drangen wir weiter in ein Seitental vor, um den links liegenden Hang, auf dem wir die Tahre vermuteten, komplett einsehen zu können. Walter wollte zuerst ein genaues Bild sämtlicher Tahre in diesem Bereich haben, um später beim Anstieg keine unangenehmen Überraschungen zu erleben.
Die beste Deckung gegen Blicke von oben bot uns ein tiefverschneites Bachbett. Hier mußte jeder Schritt wohl taxiert werden, das grobe Geröll und die unter Schnee verdeckten Spalten zwischen den Steinen waren nicht zu unterschätzen. Bei den nun häufigeren Spähpausen machte sich die Kälte unangenehm bemerkbar. Hier am Berg war es nochmals um einige Grade kühler, dazu ging ein leichter Wind. Die Sonne kam zwar langsam über den Berg, aber bis ins tief eingeschnittene Bachbett drang noch lange kein wärmender Strahl vor. Auch der Anblick ließ keine wärmenden Gedanken aufkommen.
Lange konnten wir nichts entdecken. Schließlich erblickte Walter in der steinigen Gipfelregion und knapp darunter ein paar Tahre. Genaues Ansprechen war nicht möglich, außerdem war das vor und über uns liegende Gelände so zerklüftet und unübersichtlich, dass sich auch viel näher zu unserem Standort Wild verbergen konnte. Es half nichts. Wir mussten zu der Stelle zurück, an der wir gestern Abend umgekehrt waren. Von dort wollten wir uns langsam, jede verfügbare Deckung ausnutzend, den Hang hinaufarbeiten. Auch auf die mögliche Gefahr hin, zu nah auf ruhendes Wild aufzurücken und dieses zu vergrämen.
Vorsichtig, aber dennoch recht zügig folgten wir dem Bachlauf nun in unserer eigenen Spur talwärts. Als wir schließlich die Spur verließen, um den eigentlichen Anstieg zu beginnen, kamen wir auch sogleich in den zwischenzeitlich sonnigen Bereich. Jetzt wäre uns Schatten lieber gewesen: Am steilen Hang im tiefen Schnee wurde es uns mächtig warm, zudem wurden wir durch das helle Licht und die eigenen Schatten natürlich noch viel besser sichtbar für eventuell über uns stehendes Wild.
Das war nun aber Theorie und half nicht weiter. Walter ging voran, wobei er bald schon in eine gebückte Haltung überging und auch immer öfter freie Stellen auf allen Vieren querte. Dazu immer wieder Pausen, um durchs Fernglas oder Spektiv vielleicht doch irgendwo über uns etwas zu erspähen. Das Gelände war nun wirklich schwierig, ohne auf den ersten Blick gefährlich zu wirken. Ein steiler Hang, der jedoch immer noch an weiten Stellen Bewuchs aufwies.
Der neue Schnee, der in der erbarmungslos grellen Sonne schon sulzig wurde, bot jedoch kaum Halt und rutschte immer wieder unter den Stiefeln weg. Auch Steine oder Felsen waren keine Hilfe. Zum einen, weil das Geröll keine Standsicherheit gewährleisten konnte, und außerdem, weil hier ein wichtiger Unterschied zu dem uns bekannten Alpengestein, den Walter uns schon erklärt hatte, ganz offensichtlich wurde. Der Fels der „Südalpen“ ist von außerordentlich „schlechter Qualität“. Er ist rissig und bröckelig und gibt schon unter dem Stiefel oder der nach Halt suchenden Hand leicht nach. Dies erklärte auch die riesigen Geröllhalden und das Erscheinungsbild vieler Berge, die von der Erosion stark gezeichnet sind.
Dieses schroffe Erscheinungsbild verstärkte auch den Eindruck, dass die ganze Region viel hochalpiner sei, als die Höhenlage vermuten ließ. Der vor uns liegende Gipfel hatte nicht viel über 2000 Meter Höhe, wirkte aber, verglichen mit den Alpen, wie weit über 3000 Meter.
Den verlässlichsten Halt bot in dieser Situation noch die Vegetation: überwiegend an Stechpalmen erinnernde, buschige Grasgewächse, die im Durchmesser etwa einen Meter erreichten. Der Nachteil hier waren nur die Stacheln, die auch durch Handschuhe und Hosen drangen und unter der Haut kleine Wunden verursachten, die sich später entzündeten.
Getreu dem Motto: „Einen Tod muss man sterben“, folgten wir Walter wortlos den Hang hinauf. Wir hatten jetzt sicherlich 300 Höhenmeter auf diese anstrengende Art zurückgelegt und bislang noch nichts erspähen können. Glücklicherweise schien wenigstens der Wind auf unserer Seite zu sein. Als Walter eine kleine Kuppe erreicht hatte, Stefan und ich folgten ihm unmittelbar, ließ er sich plötzlich auf den Boden fallen und bedeutete uns, es ihm nachzumachen. Vorsichtig kroch ich bis zu ihm vor und konnte sogleich mit bloßem Auge auf rund 150 Meter einen einzelnen Tahr über ein breites Geröllfeld ziehen sehen. Auch für mich als Laien war er sofort als jagdbar zu erkennen: Die massige Erscheinung und die dunkle Decke mit der üppigen Mähne waren eindeutig. Wichtiger war mir aber das Urteil von Walter. Endlich hatte er genug gesehen. Er erklärte mir, dass der Tahr vor uns gut wäre, nach seiner Meinung etwa sechs Jahre alt. Von den zwei Böcken, die wir an diesem Hang gesehen hatten, war der andere wohl noch etwas stärker und älter. Aber derzeit nirgendwo auszumachen.
Nun war es meine Entscheidung. Die gute Chance nutzen oder auf eine noch bessere warten, die vielleicht nicht kommen würde? Ich entschloss mich dazu, nicht länger zu zögern. Inzwischen war die Distanz auf etwa 180 bis 200 Meter angewachsen, das Wild machte aber noch immer einen vertrauten Eindruck. Sorgfältig bettete ich den Repetierer auf zwei Rucksäcken und versuchte, sicheren Halt zu finden. Das war gar nicht leicht an dem steilen, rutschigen Hang. Schließlich schien es zu passen. Walter hatte längst sein Okay gegeben. Als der Tahr abermals breitstehend verhoffte, zielte ich kurz und konzentriert etwas tiefblatt und schoss (Kaliber .30-06 Springfield, Geschoß 11,7 Gramm Nosler).
Obwohl ich gut abgekommen war, zeichnete der Tahr für mich nicht sichtbar und machte mehrere Fluchten bergauf. Nach wohl 20 Metern wurden die Bewegungen aber steifer, dann kippte er um und begann, das Geröllfeld hinabzurutschen. Der noch schnell hingeworfene zweite Schuss war überflüssig. Walter hatte mich jedoch eindringlich vor der Schußhärte dieses Wildes gewarnt, so dass ich vielleicht etwas übervorsichtig war.
Während Walter mir schon ein erstes Waidmannsheil wünschte, rutschte der Tahr immer noch. Er überschlug sich mehrmals, und ich sorgte mich schon ernsthaft um Trophäe und Wildbret. Wohl 300 Meter konnten wir von unserem Standort den Abgang verfolgen, bis das Wild unseren Blicken ungebremst entschwand. Walter meinte lapidar, wenn wir Pech hätten, würde der Tahr bis zum Wildbach weiter rutschen, das waren nochmals rund 500 Meter!
Wir konnten daran nichts mehr ändern. Und weil der Erfolg dieser Jagd jetzt eingetreten war und wir zudem erschöpft waren, beschlossen wir, erst einmal Pause zu machen. Den Tahr würden wir später schon irgendwo finden.
Inzwischen war es fast Mittag geworden; und die Sonne brannte förmlich vom Himmel. In der völlig klaren, sauberen Höhenluft konnte nichts die Strahlung aufhalten, so dass ich vorsichtshalber nochmals Sonnenschutz (Faktor 20) auftrug. Dann machten wir es uns an einem trockenen Plätzchen gemütlich, packten die Brotzeit aus und genossen das unbeschreibliche Panorama. Viele Kilometer Fernsicht, nur Berge, Schnee und Sonne und nirgendwo Anzeichen für menschliche Aktivität! Da war die Anstrengung bald vergessen. Das war Jagdurlaub!
Nach einer Stunde drängte ich zum Aufbruch, wollte endlich zu meiner Jagdbeute. Wir packten unsere Sachen zusammen und machten uns über das Geröllfeld an den Abstieg. Abermals zeigte sich, wie praktisch der mir bis dahin unbekannte Bergstock war. Schnell hatte ich mich an diese Hilfe gewöhnt, und hier wollte ich ihn gar nicht mehr missen. Mehr rutschend als laufend ging es bergab, und wir mussten dicht hintereinander bleiben, um uns auf dieser extrem steilen Geröllhalde nicht gegenseitig durch losgelöste Steine zu gefährden. Die Spur, die der Tahr hinterlassen hatte, war nicht schwer zu verfolgen. Und als wir nach ein paar 100 Metern nach unten glasten, konnten wir erleichtert feststellen, dass das Wild noch weit vor dem Wildbach liegengeblieben war.
Endlich kniete ich am erlegten Stück. Zu meiner Erleichterung – aber auch Verwunderung – hatte der Tahr bei seinem herben Abgang kaum sichtbaren Schaden davongetragen, nur der Unterkiefer schien etwas weicher geworden zu sein. Walter hatte mit seiner Schätzung richtig gelegen. Vor uns lag ein guter Bock, sechs Jahre alt, und wie das Maßband später zeigte, mit elf Zoll langem Gehörn durchaus respektabel. Imposant war die dichte, lange Halsmähne, deren Haare gut über 20 Zentimeter maßen. Auch im Körperbau beeindruckte mich dieses Wild: Der Bock brachte auch jetzt nach der Brunft wohl noch leicht seine 80 Kilogramm auf die Waage, also gut das doppelte eines starken Gamsbocks. Ich war jedenfalls rundum zufrieden mit Erlebnis und Beute, die Gedanken an den noch stärkeren Tahr, den wir nicht bekommen hatten, verschwanden bald.
Nachdem ich den Tahr ausgiebig auf Film gebannt hatte, machten wir uns an die rote Arbeit. Schwierig war das „aus der Decke schlagen“ in diesem Gelände. Ich wollte die Decke mitnehmen; daher mussten wir sehr sorgfältig vorgehen. Dann zerwirkten wir das Wild an Ort und Stelle. Nach einer guten Stunde war von dem eindrucksvollen Tahr nicht mehr viel übrig geblieben: Wildbret, Decke und Schädel waren komplett in unseren Rucksäcken verschwunden.
So beladen machten wir uns an den weiteren Abstieg. Jetzt merkte ich zum ersten Mal, dass mit meinem rechten Knie etwas nicht in Ordnung war. Bei jedem Schritt verspürte ich einen kleinen Stich. Das ungewohnt schwierige Gelände war vermutlich die Ursache, jedoch dachte ich mir jetzt noch nicht viel dabei. Gegen 16 Uhr erreichten wir wieder unsere Hütte, zufrieden und erschöpft.
Am Abend, als der Kamin den ganzen Raum angenehm erwärmt hatte, saßen wir nach einem vorzüglichen Abendessen zusammen vor dem Feuer. Mit einem Glas neuseeländischen Wein in der Hand machten wir schon wieder neue Pläne. Wir wollten noch ein bis zwei Tage in diesem Tal bleiben, um auf weibliches Tahrwild zu jagen.
Da es am Abend nicht bei einem Glas Wein geblieben war, fiel uns das frühe Aufstehen am nächsten Morgen etwas schwerer. Zudem wurden die Erwartungen angesichts des Wetters etwas getrübt. Statt klarem Himmel und Sonnenschein erwartete uns heute wieder das Gegenteil: Schneefall, Nebelschwaden und entsprechend schlechte Sicht.
Stück für Stück glasten wir das Tal wieder wie vor zwei Tagen ab. Obwohl wir nun ungefähr wussten, an welchen Stellen die Tahre standen und wo wir zu suchen hatten, war es extrem schwierig, überhaupt etwas auszumachen. Bedingt durch Schneefall und Nebel sah man zeitweise nichts. Und auch in den wenigen Nebellücken waren die Kontraste sehr schlecht.
Nach etwa zwei Stunden hatte Walter zum ersten Mal Anblick. Er konnte drei oder vier Tahre erkennen, aber nicht genauer ansprechen. Ob sich noch mehr Stücke bei der Gruppe befanden, war nicht zu erkennen. Auch der Standplatz des Wildes war für unser Vorhaben ungünstig. So suchten wir weiter. Am frühen Nachmittag hatten wir abermals Anblick. Diesmal konnten wir nach längerem Ansprechen feststellen, daß es sich um eine größere Gruppe handelte, bei der sicherlich auch etwas Jagdbares dabei war.
Das Einstandsgebiet war nicht einfach zu erreichen und schien auch ziemlich zerklüftet und unübersichtlich zu sein. Dennoch versprachen wir uns von einem Versuch mit einem kleinen Umweg beim Anstieg hinter einem Kamm gute Erfolgschancen. Da die Zeit auch schon vorangeschritten war, machten wir uns zügig an den Anmarsch. Mein Knie hatte sich über Nacht anscheinend wieder beruhigt, jedenfalls spürte ich kaum noch eine Beeinträchtigung. So kamen wir an dem anfangs noch recht flachen Hang schnell voran. Bald wurde er steiler, und wegen dem verhältnismäßig üppigen Gräserbewuchs und den Schneeresten war es hier unangenehm rutschig. Mehrmals konnte ich nur mit Hilfe des Bergstocks ein Abgleiten verhindern. Wenigstens mussten wir nur wenig nach oben schauen, weil vor Erreichen des Grats nicht mit Wild zu rechnen war.
Nach etwa einer Stunde hatten wir rund 500 Höhenmeter geschafft, in diesem Gelände nicht wenig. Jetzt mussten wir uns umsichtiger vorantasten, und ich war wegen der nötigen Pausen nicht undankbar. Wir hatten den Hauptgrat überschritten und befanden uns jetzt bereits im vermuteten Einstandsgebiet. Das Gelände war hier extrem steil, zerklüftet und unübersichtlich. Auch bedingt durch starke Nebelschwaden konnten wir immer nur zwischen 50 und 100 Meter vor uns einsehen. Hinter jedem Felsbrocken konnte plötzlich Wild auftauchen.
Wir arbeiteten uns Stück für Stück vor, immer bis zum nächsten Deckung bietenden Grat, hinter dem wieder eine weitere, tief eingeschnittene Rinne sichtbar wurde. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis wir die zuvor mit dem Spektiv entdeckten Tahre erreichten. Wenn sie sich nicht schon verdrückt hatten.
Das Vorwärtskommen hier war wirklich schwierig. Einerseits erforderte der Untergrund bei jedem Schritt volle Konzentration. Andererseits musste man aber ständig das Umfeld im Auge behalten. Plötzlich hörten wir die ersten Warnpfiffe von Tahrwild. Ganz nah, auch wenn eine genaue Bestimmung im Nebel nicht möglich war. Jetzt galt es! So schnell wie möglich eilten wir dem nächsten Grat entgegen. Walter hatte ihn zuerst erreicht, und winkte mich heran. Kaum 50 Meter vor uns, auf einer etwas vorstehenden Felsnase, verhoffte ein gemischtes Rudel Tahrwild: Geißen, Kitze und junge Böcke. Sie waren sichtlich unruhig, sprangen immer höher in den Fels, äugten wieder zu uns zurück und pfiffen. Die Zeit drängte!
Walter half mir, die Büchse zu betten. Er bat mich nochmals aufzupassen, dass ich keinen der jungen Böcke schoss, und überließ mir dann die Bühne. Das Wild war ständig in Bewegung, verdeckte sich zum Teil gegenseitig, hier konnte er mir keine Ansprechhilfe geben. Zudem musste es schnell gehen. Kitz, junger Bulle, Kitz. Da, eine offensichtlich etwas ältere Geiß stand plötzlich völlig frei. Im Schuss riß es sie von den Läufen, und im freien Fall war sie meinen Blicken hinter einer Felsnase sofort entschwunden. Das war unwirklich schnell gegangen.
Das Rudel machte ein paar Fluchten, verhoffte dann aber wieder und äugte zurück. Nochmals zog eine Geiß frei, im Schuss war auch dieses Stück sofort verschwunden. Jetzt war es genug, ich sicherte die Waffe, und wir sahen zu, wie das Rudel nach und nach hinter dem Grat entschwand. Walter erklärte sich das eher zögerliche Fluchtverhalten der Tahre so, dass wir für das Wild unerwartet sehr nah aufgetaucht waren. Dadurch waren die Tahre wohl verwirrt und mussten die Situation erst richtig einordnen. Er hatte diese Erfahrung schon des öfteren gemacht. Wenn die Tahre den Jäger rechtzeitig bemerken, so beträgt die normale Fluchtdistanz 500 Meter und mehr, was ich auch selbst erlebt hatte.
Wir näherten uns dem Anschuss. Jetzt erst konnten wir das Gelände besser einsehen. Deutlich konnten wir unter uns im Schnee die Stellen erkennen, wo die zwei Stücke aufgeschlagen waren. Und dann sahen wir eine nicht enden wollende Schleifspur im Schnee. Walter bemerkte nur, dass es auf der Tahrjagd eher die Ausnahme sei, wenn das Wild im steilen Gelände nicht abrutscht. Meine eigenen Erlebnisse bei nunmehr drei Tahren bestätigten das absolut.
Wir folgten der Spur den Hang hinunter, abermals auf einem Geröllfeld. Etwa 300 Meter weiter unten fanden wir beide Geißen dicht beieinander. Walter gratulierte mir aufrichtig. Zwei alte, reife Geißen, beide mit bestem Schuss aus einem Rudel herausgepickt, er war genauso froh und erleichtert wie ich. Ein Horn war angebrochen, ansonsten hatten beide Tiere keine sichtbaren Verletzungen. Auch beim späteren Zerwirken zeigte sich nichts. Dieses Wild ist wirklich hart im Nehmen!
Nach dem Photographieren und dem Versorgen des Wildes machten wir uns an den Abstieg. Es wurde schon dämmerig. Jetzt meldete sich mein Knie zurück. Das Klettern war wohl zuviel gewesen, jeder Schritt stach wie ein Messerstich. Ich kam immer langsamer voran, inzwischen war es komplett dunkel. Ich hatte keine Erklärung für die Schmerzen, bei sämtlichen früheren Wanderungen hatte ich so etwas noch nie erlebt. Aber das Gelände hier war auch anders als in Europa, schwieriger.
Schließlich wurde der Hang wieder etwas flacher, und nach einer weiteren halben Stunde erreichten wir bei stockfinsterer Nacht endlich den Wagen. Wir waren alle erschöpft, aber sehr zufrieden. Der Abend wurde noch gemütlicher als die Tage zuvor, wir hatten unser Wild erbeutet und konnten daher am kommenden Morgen später aufstehen.
Am nächsten Tag, es war der fünfte im Tal, brachten wir die Hütte gemeinsam auf Vordermann. Der Kamin musste gereinigt werden, Holz aufgefüllt, der Boden gekehrt und die Matratzen aufgestellt werden. Dann ging es zurück Richtung Zivilisation. Wir durchfuhren bei strahlendem Sonnenschein wieder das gesamte Tal. Eine tolle Zeit hatten wir hier erlebt und fast fünf Tage lang keinen Menschen außer uns selbst gesehen. Das war einmalig, wie im tiefsten Sibirien oder in Alaska. Dennoch war auch die Vorfreude auf eine warme Dusche und ein weiches Bett jetzt nicht zu verachten.
Die restlichen zwei Tage wollten wir noch versuchen, eine Gams zu erlegen. Ausgangspunkt war jetzt das „Chalet“ von Walter, direkt am Lake Tekapo gelegen. Mit einem atemberaubenden Panoramablick vom Esszimmer aus über den ganzen See und die umliegenden Berge und der tollen Drei-Sterne-Verpflegung von Zita, Walters Frau, war das zwar ein Kontrast zur Tahrjagd, aber sehr angenehm.
Leider spielte nun mein Knie nicht mehr richtig mit. Wir versuchten es trotzdem. Einen ganzen Tag lang, insgesamt zehn Stunden, humpelte ich hinter Walter und Stefan durch ein tiefverschneites Tal auf Staatsland. Zu allem Überfluss sahen wir außer ein paar wenigen Fährten und einem Opossum, das wir in seinem Tageseinstand störten, nichts.
Am letzten Tag probierten wir es noch einmal auf einer privaten Farm. Schon bald hatte ich mit dem Fernglas einen Gamsbock entdeckt, der zudem noch recht gut erreichbar schien. Er war nach Walters Ansprechen zu urteilen wohl nicht extrem alt, trotzdem wollte ich einen Versuch unternehmen. Wir mussten einen großen Umweg gehen, um aus seinem Blickfeld zu gelangen, und wollten ihn dann von oben überraschen. Ich setzte mein Bein bei jedem Schritt vorsichtig und behutsam auf, heute ging es wieder ein bisschen besser, das Gelände war hier auch leichter.
Als wir den Platz erreichten, von dem eine Schussabgabe zuvor möglich erschienen war, hatte sich der Bock etwas tiefer am Hang eingestellt. Wahrscheinlich hatte er etwas bemerkt. Jedenfalls blieben auch unsere folgenden zwei Versuche erfolglos, jedesmal war der Bock schon die entscheidenden Meter weiter gezogen. Schließlich gaben wir auf, diese Gams war uns heute ganz offensichtlich überlegen.
Da es zugleich mein letzter Jagdtag gewesen war, erfüllte sich der Wunsch nach einer starken neuseeländischen Gamskrucke nicht. Das war hinsichtlich der erlebnisreichen Tahrjagd und der guten Trophäen aber leicht zu verschmerzen. Und es war ein guter Grund, bald wieder in dieses phantastische Land mit all seinen Freiheiten und Möglichkeiten, nicht nur jagdlicher Art, und den netten, aufgeschlossenen Menschen zurückzukehren.
Hansgeorg Arndt

ANZEIGEAboangebot